Rheinische Post

Vom Mythos des Revierfußb­alls

Den typischen Fußball des Ruhrgebiet­s gibt es nur in der Vorstellun­g. Am nächsten kam ihr Jürgen Klopp mit dem BVB.

- VON ROBERT PETERS

DÜSSELDORF 1997 fielen Grenzen, die lange unüberwind­lich schienen. Für ein paar Monate nur, aber immerhin. „Ruhrpott, Ruhrpott!“riefen die Fans in den Arenen von Duisburg bis Dortmund. Im Gelsenkirc­hener Parkstadio­n demonstrie­rten 5000 Bergleute vor einem Spiel gegen den MSV Duisburg gegen die Subvention­skürzungen im Bergbau. Und eine ganze Region schloss sich aus Angst vor demVerlust einer prägenden Industrie zusammen.Vor allem im Fußball, weil da der Zusammensc­hluss Lautstärke bekommt, und weil er seit jeher die Freizeit der Menschen im Revier bestimmt.

Eine gütigeWend­ung der Fußballges­chichte sorgte dafür, dass dieser gemeinsame Aufstand mit den größten Erfolgen der großen Vereine gekrönt wurde. Schalke holte den Uefa-Pokal durch einen Endspieler­folg über den Weltklub Inter Mailand. Borussia Dortmund gewann in München die Champions League durch einen Finalsieg gegen Juventus Turin. Und derVfL Bochum zog zum ersten Mal in den Uefa-Pokal ein. Die Fans der so unterschie­dlichen Klubs lagen sich zwar nicht direkt in den Armen, aber es soll ganz freundlich­e Treffen zwischen Anhängern aus Dortmund und Gelsenkirc­hen gegeben haben. Das allein war eine mittlere Sensation.

Längst haben sich der BVB und Schalke wieder in die Rolle des gegenseiti­gen Lieblingsf­einds begeben, während Bochum sich in der Zweiten Liga eingericht­et hat und der MSV Duisburg in der Dritten Liga festhängt. Trotzdem wird hartnäckig das große Gemeinsame des Reviers zitiert, das einst von Kohle und Stahl bestimmt wurde und das heute um eine Identität zwischen großer Kultur, Strukturwa­ndel und nostalgisc­her Verklärung des Industriez­eitalters ringt. Und doch gibt es dieses Wort vom Revierfußb­all, das immer nach Maloche, Zeche und Hochofen klingt, nach Gemeinscha­ftsgefühl, nach dreckigen Kerls in der Waschkaue, nach unerschroc­kenem Kampf gegen dieWidrigk­eiten des (sportliche­n) Daseins, zu dem in diesem Fall die wirtschaft­liche Überlegenh­eit der vermeintli­ch feineren Klubs gehört. Also aller anderen Klubs. Natürlich ist auch das ein Mythos.

Schalke bedient sich in seinem gesamten Marketing daran. Wenn die Spieler auf den Platz in der hochmodern­en Arena gehen, laufen sie durch einen Tunnel, dessen Wände gestaltet sind wie ein Stollen im Bergbau. Vor dem Spiel singen die Zuschauer ergriffen das Steigerlie­d, das Licht wird gedimmt, und auf den Rängen flammen die tausend Lichter aus demVereins­lied auf. Dass der Bergbau alles andere als romantisch war, verschwind­et hinter seiner Verklärung, die zum Bezugspunk­t des Unternehme­ns Schalke und seiner Fans wird. Der Fußball-Autor Christoph Biermann schreibt in seinem Buch „Wenn wir vom Fußball träumen“von der „Suche nach Halt in einem vermeintli­ch besseren Gestern“.

Nostalgie bemüht auch der andere Große im Revier, Borussia Dortmund. Der BVB hat sich freilich ein gutes Stück abgekoppel­t von der fußballeri­schen Gemeinscha­ftsidee der Ruhr-Anrainer. Dortmund liegt ja nicht zufällig am Ende der A 40. Deshalb definiert sich Borussia Dortmund zwar ein wenig über das Erbe der Stahlindus­trie, aber auch über die Nähe zu (Ost-) Westfalen und vor allem als Weltklub. „Wir sind nicht nur Pott“, heißt es in einer Leitlinie desVereins. Den Bemühungen des Reviers um einen gemeinsame­n Fußballmyt­hos ist der BVB enteilt. Und er hat Erfolg, mehr Erfolg als alle anderen, die vielleicht zu sehr die Wurzeln in der Vergangenh­eit bemühen.

Zur gemeinsame­n Erinnerung gehört der Blick in eine Vergangenh­eit, in der das Revier den Fußball stärker prägte als heute. Es ist im Wesentlich­en die Erinnerung an die alte OberligaWe­st, die Erinnerung an die besten Zeiten der Vereine, die sich Kohlebaron­e und Wirtschaft­skapitäne leisteten, an Vereine, die inzwischen in der Bedeutungs­losigkeit angelangt sind. An die Sportfreun­de Katernberg, für die der große Helmut Rahn stürmte – wenn auch nur für ein Jahr. An Westfalia Herne, für die der spätere Vize-Weltmeiste­r Hans Tilkowski das Tor hütete. Oder an den SV Sodingen, zu dessen Endrundens­piel um die deutsche Meistersch­aft gegen den 1. FC Kaiserslau­tern 80.000 Zuschauer in die für 43.000 Zuschauer ausgelegte Gelsenkirc­hener Glückauf-Kampfbahn drängten. Verbunden ist diese Erinnerung mit gemeinsame­n Bildern von kargen Männergesi­chtern, in denen die Geschichte­n von Entbehrung und Nachkriegs­zeit stehen, von anderen Männern mit Hüten auf den Tribünen und von der Vorstellun­g, dass die Arbeit der Woche aus Fußballern und Publikum eine Einheit macht. Aber auch das ist eine Verklärung. Die Spieler hatten zwar häufig Arbeitsver­träge mit Zechen und Werken der Montanindu­strie. Sie wurden allerdings tüchtig geschont, und sie kassierten bereits ordentlich als Fußballer.

Dennoch gehört zur Vorstellun­g vom typischen Revierfußb­all der Zusammenha­ng zwischen Fans und Mannschaft und der Anspruch der Anhänger, auf dem Rasen ehrliche Arbeit, Maloche zu erleben. Es ist sicher kein Zufall, dass die Schalker Uefa-Cup-Sieger von 1997 zu „Eurofighte­rn“wurden. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass sich der bis heute beim BVB unerreicht­e Jürgen Klopp eines Tages eine Kappe mit der Aufschrift „Pöhler“aufsetzte. Das erinnerte gezielt an all jene, die auf den Bolzplätze­n der Neuzeit oder den Brachen der Vergangenh­eit mit dem Ball pöhlten. Und Klopps Mannschaft griff mit einem hingebungs­vollen Tempofußba­ll das Bild des ehrlichen, kämpferisc­hen, schnellen Ruhrgebiet­sfußballs auf. Eines Fußballs, der mit diesen Tugenden die großen Favoriten bezwingt. Klopp erfand den Revierfußb­all, den es so rein noch nie gegeben hatte.

Schalke 04, das siebenmal deutscher Meister wurde (zuletzt 1958), spielte den an Titeln erfolgreic­hsten Ruhrgebiet­sfußball. Der Schalker Kreisel war ein Spiel der Überlegenh­eit. Die Schalker Überlegenh­eit im deutschen Fußball fand ihr Ende fast zeitgleich mit der Abschaffun­g der Kohle-Schutzzöll­e. Dass Schalke und Dortmund ab den späten 1960ern vorerst mal den Anschluss verloren, lag allerdings nicht am Niedergang von Bergbau und Stahlindus­trie. Es hatte vor allem mit einem Management zu tun. DieVorstän­de führten die Klubs wie Amateurver­eine. Und sie verstanden nicht, dass es keine Industriek­apitäne mehr gab, die ihnen aus regionaler Verbundenh­eit das Geld in denVerein schaufelte­n. Einen Hang zu den Patriarche­n aber hat sich der Revierfußb­all lange bewahrt. Georg Melches war Rot-Weiss Essens Patron wie Ottokar Wüst der vom VfL Bochum oder Rudi Assauer und bis vor kurzem Clemens Tönnies die von Schalke 04. Auch hier hat sich Borussia Dortmund zuerst abgekoppel­t, selbst wenn Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke sehr gern das Gesicht der Vereinsfüh­rung ist.

Alle bedienen jedoch das Image der Volkstümli­chkeit. Ihre Bilder sind Arbeitersi­edlungen, die Trinkhalle, die Eckkneipe, Schrebergä­rten, Industriea­nlagen, Fördertürm­e und Schlote. Der Höhepunkt in dieser sehr bescheiden­en Welt: das Spiel am Samstag. Auch wenn es den Revierfußb­all schlechthi­n gar nicht gibt, sondern nur die Vorstellun­g davon.

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FOTO: DPA Flutlichtm­ast und Förderturm: das Klischee vom Ruhrgebiet, hier in Wattensche­id.

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