Vom Mythos des Revierfußballs
Den typischen Fußball des Ruhrgebiets gibt es nur in der Vorstellung. Am nächsten kam ihr Jürgen Klopp mit dem BVB.
DÜSSELDORF 1997 fielen Grenzen, die lange unüberwindlich schienen. Für ein paar Monate nur, aber immerhin. „Ruhrpott, Ruhrpott!“riefen die Fans in den Arenen von Duisburg bis Dortmund. Im Gelsenkirchener Parkstadion demonstrierten 5000 Bergleute vor einem Spiel gegen den MSV Duisburg gegen die Subventionskürzungen im Bergbau. Und eine ganze Region schloss sich aus Angst vor demVerlust einer prägenden Industrie zusammen.Vor allem im Fußball, weil da der Zusammenschluss Lautstärke bekommt, und weil er seit jeher die Freizeit der Menschen im Revier bestimmt.
Eine gütigeWendung der Fußballgeschichte sorgte dafür, dass dieser gemeinsame Aufstand mit den größten Erfolgen der großen Vereine gekrönt wurde. Schalke holte den Uefa-Pokal durch einen Endspielerfolg über den Weltklub Inter Mailand. Borussia Dortmund gewann in München die Champions League durch einen Finalsieg gegen Juventus Turin. Und derVfL Bochum zog zum ersten Mal in den Uefa-Pokal ein. Die Fans der so unterschiedlichen Klubs lagen sich zwar nicht direkt in den Armen, aber es soll ganz freundliche Treffen zwischen Anhängern aus Dortmund und Gelsenkirchen gegeben haben. Das allein war eine mittlere Sensation.
Längst haben sich der BVB und Schalke wieder in die Rolle des gegenseitigen Lieblingsfeinds begeben, während Bochum sich in der Zweiten Liga eingerichtet hat und der MSV Duisburg in der Dritten Liga festhängt. Trotzdem wird hartnäckig das große Gemeinsame des Reviers zitiert, das einst von Kohle und Stahl bestimmt wurde und das heute um eine Identität zwischen großer Kultur, Strukturwandel und nostalgischer Verklärung des Industriezeitalters ringt. Und doch gibt es dieses Wort vom Revierfußball, das immer nach Maloche, Zeche und Hochofen klingt, nach Gemeinschaftsgefühl, nach dreckigen Kerls in der Waschkaue, nach unerschrockenem Kampf gegen dieWidrigkeiten des (sportlichen) Daseins, zu dem in diesem Fall die wirtschaftliche Überlegenheit der vermeintlich feineren Klubs gehört. Also aller anderen Klubs. Natürlich ist auch das ein Mythos.
Schalke bedient sich in seinem gesamten Marketing daran. Wenn die Spieler auf den Platz in der hochmodernen Arena gehen, laufen sie durch einen Tunnel, dessen Wände gestaltet sind wie ein Stollen im Bergbau. Vor dem Spiel singen die Zuschauer ergriffen das Steigerlied, das Licht wird gedimmt, und auf den Rängen flammen die tausend Lichter aus demVereinslied auf. Dass der Bergbau alles andere als romantisch war, verschwindet hinter seiner Verklärung, die zum Bezugspunkt des Unternehmens Schalke und seiner Fans wird. Der Fußball-Autor Christoph Biermann schreibt in seinem Buch „Wenn wir vom Fußball träumen“von der „Suche nach Halt in einem vermeintlich besseren Gestern“.
Nostalgie bemüht auch der andere Große im Revier, Borussia Dortmund. Der BVB hat sich freilich ein gutes Stück abgekoppelt von der fußballerischen Gemeinschaftsidee der Ruhr-Anrainer. Dortmund liegt ja nicht zufällig am Ende der A 40. Deshalb definiert sich Borussia Dortmund zwar ein wenig über das Erbe der Stahlindustrie, aber auch über die Nähe zu (Ost-) Westfalen und vor allem als Weltklub. „Wir sind nicht nur Pott“, heißt es in einer Leitlinie desVereins. Den Bemühungen des Reviers um einen gemeinsamen Fußballmythos ist der BVB enteilt. Und er hat Erfolg, mehr Erfolg als alle anderen, die vielleicht zu sehr die Wurzeln in der Vergangenheit bemühen.
Zur gemeinsamen Erinnerung gehört der Blick in eine Vergangenheit, in der das Revier den Fußball stärker prägte als heute. Es ist im Wesentlichen die Erinnerung an die alte OberligaWest, die Erinnerung an die besten Zeiten der Vereine, die sich Kohlebarone und Wirtschaftskapitäne leisteten, an Vereine, die inzwischen in der Bedeutungslosigkeit angelangt sind. An die Sportfreunde Katernberg, für die der große Helmut Rahn stürmte – wenn auch nur für ein Jahr. An Westfalia Herne, für die der spätere Vize-Weltmeister Hans Tilkowski das Tor hütete. Oder an den SV Sodingen, zu dessen Endrundenspiel um die deutsche Meisterschaft gegen den 1. FC Kaiserslautern 80.000 Zuschauer in die für 43.000 Zuschauer ausgelegte Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn drängten. Verbunden ist diese Erinnerung mit gemeinsamen Bildern von kargen Männergesichtern, in denen die Geschichten von Entbehrung und Nachkriegszeit stehen, von anderen Männern mit Hüten auf den Tribünen und von der Vorstellung, dass die Arbeit der Woche aus Fußballern und Publikum eine Einheit macht. Aber auch das ist eine Verklärung. Die Spieler hatten zwar häufig Arbeitsverträge mit Zechen und Werken der Montanindustrie. Sie wurden allerdings tüchtig geschont, und sie kassierten bereits ordentlich als Fußballer.
Dennoch gehört zur Vorstellung vom typischen Revierfußball der Zusammenhang zwischen Fans und Mannschaft und der Anspruch der Anhänger, auf dem Rasen ehrliche Arbeit, Maloche zu erleben. Es ist sicher kein Zufall, dass die Schalker Uefa-Cup-Sieger von 1997 zu „Eurofightern“wurden. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass sich der bis heute beim BVB unerreichte Jürgen Klopp eines Tages eine Kappe mit der Aufschrift „Pöhler“aufsetzte. Das erinnerte gezielt an all jene, die auf den Bolzplätzen der Neuzeit oder den Brachen der Vergangenheit mit dem Ball pöhlten. Und Klopps Mannschaft griff mit einem hingebungsvollen Tempofußball das Bild des ehrlichen, kämpferischen, schnellen Ruhrgebietsfußballs auf. Eines Fußballs, der mit diesen Tugenden die großen Favoriten bezwingt. Klopp erfand den Revierfußball, den es so rein noch nie gegeben hatte.
Schalke 04, das siebenmal deutscher Meister wurde (zuletzt 1958), spielte den an Titeln erfolgreichsten Ruhrgebietsfußball. Der Schalker Kreisel war ein Spiel der Überlegenheit. Die Schalker Überlegenheit im deutschen Fußball fand ihr Ende fast zeitgleich mit der Abschaffung der Kohle-Schutzzölle. Dass Schalke und Dortmund ab den späten 1960ern vorerst mal den Anschluss verloren, lag allerdings nicht am Niedergang von Bergbau und Stahlindustrie. Es hatte vor allem mit einem Management zu tun. DieVorstände führten die Klubs wie Amateurvereine. Und sie verstanden nicht, dass es keine Industriekapitäne mehr gab, die ihnen aus regionaler Verbundenheit das Geld in denVerein schaufelten. Einen Hang zu den Patriarchen aber hat sich der Revierfußball lange bewahrt. Georg Melches war Rot-Weiss Essens Patron wie Ottokar Wüst der vom VfL Bochum oder Rudi Assauer und bis vor kurzem Clemens Tönnies die von Schalke 04. Auch hier hat sich Borussia Dortmund zuerst abgekoppelt, selbst wenn Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sehr gern das Gesicht der Vereinsführung ist.
Alle bedienen jedoch das Image der Volkstümlichkeit. Ihre Bilder sind Arbeitersiedlungen, die Trinkhalle, die Eckkneipe, Schrebergärten, Industrieanlagen, Fördertürme und Schlote. Der Höhepunkt in dieser sehr bescheidenen Welt: das Spiel am Samstag. Auch wenn es den Revierfußball schlechthin gar nicht gibt, sondern nur die Vorstellung davon.