Von fremden Ländern und Menschen
Urlaub in Europa mit klassischer Musik: Wolfram Goertz stellt unverwechselbare Klänge aus zehn Ländern vor – samt Youtube-Tipps.
Dieses Jahr ist alles anders. Eigentlich fliegen viele Leute gern, sogar lange Strecken. Doch wollen sie sich aktuell in eine Sardinenbüchse voller Menschen setzen, deren Gesundheitsstatus niemand kennt? Und sich vor dem Büfett eines All-inclusive-Schuppens einreihen, dessen Hotelier den Gästen die Maske freistellt?
Das überlegen sich derzeit in der Tat viele. Träumen bleibt in jedem Fall erlaubt. Von ozeanisch breiten Stränden, von winzigen Gassen in malerischen Altstädten, von ruhig daliegenden Seen, von Volksfesten und Sonnenuntergängen, von nächtlichen Geräuschen hinter dem Ferienhaus, von Ruinen und Kopfsteinpflaster, von Almen mit fetten Kühen und Nebel beim Aufstieg. Viele von uns werden das in diesem Jahr nicht erleben können, weil der Europa-Urlaub einfach nicht funktioniert. Also traumreisen wir mit ein paar Meisterwerken der klassischen Musik quer über den Kontinent und lassen uns inspirieren. Mit Youtube sind wir alle mit an Bord.
Deutschland Robert Schumann hat in seinen„Kinderszenen“das Motto unserer heutigen Reise ausgegeben: „Von fremden Ländern und Menschen“. Er war aber auch der größte Tagträumer unter den namhaften Komponisten. Überall Fantasiestücke, Spukgestalten, Phantome, Maskenträger, die im Konzertsaal häufig zu erleben sind. Die vier Nachtstücke op. 23 sind weniger bekannt. Sie wurden von E.T.A. Hoffmann inspiriert, den Schumann oft und gern gelesen hat. In seinem Tagebuch schrieb er 1839, er habe beim Komponieren an eine „Leichenphantasie“gedacht. Ich liebe die Aufnahme des großen russischen Pianisten Emil Gilels aus dem Jahr 1966.
Polen Wie Schumann empfand sich auch der hierzulande viel zu selten aufgeführte polnische Komponist Karol Szymanowski (1882 bis 1937) als Liebhaber des geistigen Freigangs. Gleichwohl musste alles seine Form haben. Wie groß der Farbenreichtum seiner Musik ist, das zeigt die Aufnahme seiner beiden Violinkonzerte mit dem Geiger Thomas Zehetmair und dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Simon Rattle. Szymanowski selbst nannte seine Musik „die Improvisation einesWanderers, der immer weiter zu neuen Ufern und neuen Kontinenten strebt“.
Italien Szymanowski ist natürlich absolute Musik, für die man als Hörer etwas länger nach dem Schlüssel sucht. Bei Ottorino Respighi (1879 bis 1936), der zur selben Zeit wie der polnische Kollege lebte, ist die Materie leichter zugänglich. Trotzdem ist sie nicht banal. Sein orchestraler Vierteiler „Pini di Roma“ist ein grandioser Spaziergang durch Raum und Zeit der ewigen Stadt, der sakrale Melodien und mittelalterliche Klangtechniken einschließt. Im dritten Satz wird eine echte Nachtigall vom Band zugespielt. Der vierte Satz schließlich ist einer der wundervollsten Märsche der Musikgeschichte, es ergreift einen ein unglaubliches Gefühl der Erhabenheit bei der Vorstellung, man schreite langsam über die von Pinien gesäumte historische Via Appia. Bei Youtube gibt es die perfekte Aufnahme des Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner, die den Hörer wie einen Centurio auf einem römischen Hügel stehen lässt.
Frankreich Als Claude Debussy 1892 sein einziges Streichquartett komponierte, war er noch kein berühmter Mann. Und er war noch auf der Reise, seinen Stil zu finden. Da er ein einzigartiges Talent besaß, sind auch dieWerke dieser Sondierungsphase bereits meisterlich. In seinem Streichquartett greift er beherzt zu, gleichwohl sind da viele Töne und Impressionen aus anderen Sphären. Wie er mit Elementen aus Gregorianik, Zigeunermusik, javanesischer Gamelanmusik und russischem Stil jongliert, ist beeindruckend. Doch ist es mehr als nur kompositorische Artistik: Debussy integriert alles zu einer mitreißenden eigenen Klangsprache, die vor allem eines ist: sehr französisch. Fabelhaft die Einspielung des Alban-Berg-Quartetts.
Schweden Morgens ging der Mann ins Büro und prüfte, was in seinem Land für die Zukunft erfunden wurde. Seinen Beruf im Königlichen Patentamt in Stockholm liebte er über alles, doch wenn er abends das Büro verließ, eilte er sogleich zu seiner zweiten großen Liebe – und verwandelte sich in einen der bedeutendsten Komponisten Skandinaviens. Kurt Atterberg (1887 bis 1974) ist bis heute Schwedens wichtigster Spätromantiker, ein glühender Verfechter weit aussingender Melodien und üppiger Orchesterklänge. Die fabelhaften Göteborger Symphoniker unter Neeme Järvi haben auch die kühne, selbstbewusste Symphonie Nr. 2 F-Dur eingespielt: Sie ist eine Art Mächtigkeitsspringen, jeder Satz endet so imposant, als sei er das Finale. Atterberg gab stets reichlich, und der Hörer badet gern in diesem Sound. Manche Passagen wären der ideale Soundtrack zu einem ZDF-Sonntagabend-Melodram von Inga Lindström.
Spanien Nun pilgern wir nach Sevilla. Unser Reiseleiter, der Komponist Isaac Albéniz, hat einen Besuch beim Fronleichnamsfest geplant. Prächtige Prozessionen, Tänze, gleißende Farben, heiliger Ernst, von Sonne überschüttet: So erleben wir „El Corpus Christi en Sevilla“. Dies ist erst die dritte Station und doch ein frühes Finale. Zwölf Impressionen für Klavier unter dem Titel „Iberia“, auf vier Hefte verteilt, schrieb der Spanier Albéniz (1860 bis 1909) wenige Jahre vor seinem Tod in Paris. Sein Heimweh war so groß, dass er den Flügel zum Orchester machte, dem keine Nuance entgeht. Die Dynamik ist gespreizt ins Riesenhafte. Doch bei allem Luxus, den Albéniz aus Gassen und Plätzen dringen lässt: Seine Bilder sind Beschwörungen. Sie erstarren. Rhythmen gefrieren. Und die ekstatische Magie in „Corpus Christi“verwandelt sich ins Rituelle, Lässigkeit in Schwermut. Die Aufnahme der spanischen Pianistin Alicia de Larrocha ist bis heute unerreicht. Ihr Live-Mitschnitt aus der Londoner Royal Festival Hall ist nicht minder überragend.
Finnland Der Komponist Jean Sibelius hatte ein inniges Verhältnis zur finnischen Mythologie. Die Märchen des Kalevala etwa, des finnischen Nationalepos, geistern wie ein lebhaftes Gespenst durch Sibelius' Welt, von der frühen Kullervo-Symphonie bis zum legendären„Schwan von Tuonela“, der auf dem Fluss der Unterwelt seine Bahnen zieht. Doch die Weite der Räume, die Sibelius oft komponiert, ist mitnichten typisch finnisch. Die lang gestreckten Ostinato-Prozesse in den Symphonien weisen ein individuelles Profil zwischen Bruckner und Minimal Music auf; die harmonischen Kurven, selbst wenn sie tonal verlaufen, sind bisweilen so singulär, dass man sie irgendwohin verorten könnte, nicht unbedingt nach Nordosteuropa. Als nordischer Reflex auf Schumanns Nachtstücke ist „Der Schwan von Tuonela“(aus der Lemminkäinen-Suite) gleichwohl ideal. Eine schöne Aufnahme hat Okko Kamu mit dem RSO Helsinki vorgelegt.
Russland Nicht weit, sondern nur einen Grenzübertritt weit ist es von Finnland zu Mütterchen Russland. Wieder sind wir bei zutiefst ausdrucksvoller Musik. Der wunderschöne Fall, dass Zurückhaltung eine größere Steigerung von Ausdruck bewirken kann, zeigt in einem historisch, aber topaktuell anmutenden Live-Mitschnitt das Trio Swjatoslaw Richter (Klavier), Oleg Kagan (Violine) und Natalia Gutman (Violoncello) in Peter Tschaikowskis oftmals überzuckert und dröhnend gespieltem Klaviertrio a-Moll. Wo Kraft und Furor vonnöten sind, erklingen sie auch. Der Mitschnitt entstand im Dezember 1986 im Moskauer Puschkin-Museum.
Schottland Mancher, der sich bei Beethoven perfekt auszukennen glaubt, wird hier vom Zweifel befallen. Der große Meister soll schottische Lieder op. 108 geschrieben haben? Ja, hat er. Von ihm gibt es rund 180 Bearbeitungen englischer, irischer, schottischer und walisischer Volkslieder, allesamt Auftragsarbeiten für den schottischen Musikverleger George Thomson. Das sind Kostbarkeiten, über die man nicht zu viel verraten sollte. Einfach mal reinhören, am besten in denWiener Live-Mitschnitt von Manuel Walser aus dem Konzerthaus.
Ungarn Im vergangenen Jahr spielte das großartige hr-Sinfonieorchester (also das Orchester des Hessischen Rundfunks) den grandiosen „Psalmus Hungaricus“des ungarischen Komponisten Zoltán Kodály, ein patriotisches, hymnisches Meisterwerk. Die Besetzung war imperial: Das Tenorsolo sang István Kovácsházi, den Chorpart übernahm die Internationale Chorakademie Lübeck (Rolf Beck, Einstudierung), und am Pult stand Peter Eötvös, der komponierende Dirigent. Die Aufführung dürfte in ihrer Leidenschaft und Präzision unschlagbar sein.Vor allem führte sie einem mit aller Vehemenz des Phänomen des ungarischen Freiheitsbegriffs vor Augen und Ohren – um den man sich heutzutage wahrlich Sorgen machen muss.