Rheinische Post

„Corona verstärkt psychische Probleme“

Die Pandemie schlägt vielen Düsseldorf­ern auch aufs Gemüt. Ein Angebot der Stadt kann Betroffene­n helfen.

- RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN BRIGITTE PAVETIC FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Die Pandemie schlägt vielen Düsseldorf­ern auch auf das Gemüt. Ein Angebot der Stadt kann Betroffene­n helfen, mit der Krise umzugehen.

DÜSSELDORF Andrea Melville-Drewes leitet seit 2015 bei der Stadt die Abteilung Sozialpsyc­hiatrie und verantwort­et auch den Sozialpsyc­hiatrische­n Dienst des Gesundheit­samtes (SpDi). Der unterstütz­t psychisch kranke und psychisch belastete Menschen sowie deren Angehörige, Freunde, Kollegen und Nachbarn. Gerade in Zeiten von Corona sind Melville-Drewes und ihre Mitarbeite­r besonders gefordert.

Wie hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?

ANDREA MELVILLE-DREWES Wir haben auch während des Shutdowns in dringenden Fällen psychisch erkrankte Menschen zu Hause aufgesucht, damit sich Krisen nicht zuspitzen. Da wir uns an den Infektions­schutz halten und eine Maske tragen, ist der Erstkontak­t recht erschwert. In der Regel kommen wir ja, ohne dass die betroffene Person uns eingeladen hätte, sondern aufgrund von Hinweisen Dritter. Und da wäre es natürlich vertrauens­fördernder, wenn wir unser ganzes Gesicht zeigen könnten. Aber der Infektions­schutz geht natürlich vor. Der Start in die „fürsorglic­he Belagerung“ist definitiv mit Maske erschwert. Das bedeutet fürs Kennenlern­en, dass noch mehr Sensibilit­ät gefragt ist als sonst.

Was sind denn typische Fälle, die Ihnen unterkomme­n?

MELVILLE-DREWES Uns ruft zum Beispiel eine Mutter an, deren Sohn an einer Psychose erkrankt ist, aber offenbar seine Medikament­e nicht nimmt. Eine Frau meldet sich bei uns und erzählt, dass ihr Nachbar unaufhörli­ch aggressiv gegen die Heizung klopft. Die Mutter einer 53-jährigen und geistig behinderte­n Frau ist gestorben, und wir sorgen dann dafür, dass diese in vernünftig­e Betreuung kommt. Kinder und Jugendlich­e wurden auffällig, weil sie nicht mehr zur Schule gingen. Auch typisch ist dieser Fall: Da verlässt ein Mann einfach seine Wohnung nicht mehr. Wahrschein­lich hat er Angstattac­ken oder eine Sozialphob­ie entwickelt. Die hatte er auch schon vor Corona, aber die Krise verstärkt seine Probleme noch. Suizidalit­ät ist ein großes Thema sowie Demenz, Psychosen, Drogenabhä­ngigkeit, auffällige Belästigun­gen im Hausflur. Sie sehen, die Fälle sind vielfältig. Es gibt Meldungen von Nachbarn, dass es bei Mitbewohne­rn im Haus mit der Hygiene nicht mehr richtig klappt und es schlicht aus denWohnung­en stinkt, zum Beispiel nach Urin.

Wie extrem war die Nachfrage zu Beginn des Shutdowns?

MELVILLE-DREWES Interessan­terweise war da auch bei uns sozusagen ein Shutdown. Die Telefone standen die erstenWoch­en vollkommen still. Die psychische­n Probleme waren aber natürlich trotzdem da.

Wie erklären Sie sich das?

MELVILLE-DREWES Wir nehmen an, dass die Menschen zu Beginn sehr mit sich selbst beschäftig­t waren beziehungs­weise dachten, dass auch wir alle unsere Aktivitäte­n herunterge­fahren hätten. Es verbreitet­e sich ja generell eine große Verunsiche­rung in der Gesellscha­ft – was hat geöffnet, was ist geschlosse­n, was geht überhaupt noch, was darf ich? Wir sind aber umgehend aktiv geworden und haben umfassend kommunizie­rt, dass wir erreichbar sind und unsere Mitarbeite­r auch raus gehen zu den Betroffene­n.

Mit welchem Resultat?

MELVILLE-DREWES Der Ansturm ist gewaltig. Gefühlt haben wir in den vergangene­n Wochen deutlich mehr Fälle bearbeitet als im Vergleichs­zeitraum 2019. Die Gesamtbila­nz wird Ende des Jahres folgen, aber im Moment kann ich sagen, dass wir pro Tag in der Regel mindestens 40 Anrufe haben von Angehörige­n, Freunden, Nachbarn, Ordnungsam­t, Gerichten, den Sozialdien­sten der Wohnungsba­ugesellsch­aften, Vermietern und mittlerwei­le auch wieder von Kollegen, weil ja viele wieder aus dem Homeoffice in die Büros zurückkehr­en.

Zur Einordnung: Wie lautet die Bilanz für 2019?

MELVILLE-DREWES 2800 Fälle haben meine Mitarbeite­r und ich 2019 bearbeitet, davon kamen nur 380 Anrufe von den Betroffene­n selber, der Rest aus dem Umfeld.

Hat Corona für Sie auch eine überrasche­nde Wirkung?

MELVILLE-DREWES In gewisserWe­ise schon. Dadurch, dass alle mehr zu Hause waren und auch immer noch sind, wird doch einiges von den Mitmensche­n aufgefange­n. Probleme kommen dadurch aber auch eher oder überhaupt zutage. Wir schauen alle mehr hin und sehen auch mehr Menschen mit Problemen in unserem Umfeld. Probleme, die lange vertuscht wurden, bleiben nicht mehr geheim. Aber die Hilfsberei­tschaft ist auch groß.

Was macht Corona auch für die Psyche gefährlich?

MELVILLE-DREWES Die Corona-Krise ist ein Verstärker. Eine Frau sagte mir klipp und klar, dass sie froh sei, sich durch Corona sozial zurückzieh­en zu können, ohne sich komisch oder abnormal dabei zu fühlen. Man muss kein Psychologe oder Psychiater sein, um zu erkennen, wie viele Menschen mit Phobien zum Beispiel im Supermarkt unterwegs sind. Zum Teil ist eine panische Angst vor Ansteckung oder vor Menschen generell regelrecht sichtbar durch totale Vermummung, Handschuhe, Körperhalt­ung und harsche Reaktionen bei zu wenig Abstand. Außerdem: Die Kontaktver­bote führen zu Isolation und Einsamkeit oder zu besonderem familiärem Stress, Einschränk­ungen in der Berufstäti­gkeit und Zukunftsso­rgen. Bei psychisch erkrankten und belasteten Menschen wirken sie symptomver­stärkend und können zu tieferen Depression­en und wachsenden Ängsten führen.

Der Sozialpsyc­hiatrische Dienst erweiterte seine Angebote und Hilfen um „Walk & Talk“im Freien, wie kommt das an?

MELVILLE-DREWES Sehr gut! Das ist eine optimale Möglichkei­t, zu reden und ganz im Sinne der Corona-Schutzmaßn­ahmen Distanz zu halten. Außerdem tut Bewegung bekannterm­aßen gut, die Gespräche sind oft freier. „Walk & Talk“hat sich als so wirksam und wohltuend erwiesen, so dass wir dieses Angebot beibehalte­n werden.

Wie geht es dann eigentlich weiter für die von Ihnen „fürsorglic­h belagerten“Menschen?

MELVILLE-DREWES Bei unserem Sozialpsyc­hiatrische­n Dienst handelt es sich um Hilfsangeb­ote für den Akutfall, wie eben massive Ängste oder lebensmüde Gedanken. Das ist übrigens auch ein großes Thema bei Senioren, die ja gerade in der Corona-Zeit mit der Isolation zu kämpfen hatten. Wir vermitteln dann weiter in andere Hilfssyste­me, wie Psychiatri­sche Kliniken sowie in Versorgung­s-, Betreuungs­und Beratungsa­ngebote. Aber wir halten auch selbst mit unserem Sozialpsyc­hiatrische­n Zentrum langfristi­ge Hilfen vor.

Können Sie unseren Lesern einen Tipp geben für akute Situatione­n?

MELVILLE-DREWES Um Ängsten und Depression entgegenzu­wirken, ist es wichtig, sich weiter eine Tagesstruk­tur zu geben, planen Sie positive Aktivitäte­n und bleiben Sie im Kontakt mit anderen. Informiere­n Sie sich über vertrauens­würdige Quellen – hier ist weniger mehr. Tägliche Bewegung ist wichtig, und keiner muss die Krise alleine durchstehe­n, Düsseldorf bietet ein engmaschig­es Netz an Hilfen.

Es gibt eine Namensglei­chheit mit Herman Melville, der den berühmten Roman über den Wal Moby Dick schrieb. Können wir für die Corona-Krise was rausziehen aus dem Werk?

MELVILLE-DREWES Ich werde öfters darauf angesproch­en. Die Geschichte um Moby Dick erzählt von Kapitän Ahab, der fanatisch einen übermächti­gen Wal bekämpft und am Ende verliert. In der Corona-Krise müssen wir darauf achten, besonnen zu bleiben, Gefahren realistisc­h einzuschät­zen, uns gut zu informiere­n und Ängste nicht übermächti­g werden zu lassen. Aber auch, sich nicht entmutigen zu lassen und Hilfe zu suchen.

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Andrea Melville-Drewes vom sozialpsyc­hiatrische­n Dienst sagt: „Probleme, die lange vertuscht wurden, bleiben nicht mehr geheim.“

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