Rheinische Post

Raus aus der Ökostrom-Falle

Um das Klima zu schützen, werden immer mehr konvention­elle Kraftwerke abgeschalt­et. Das gefährdet zunehmend die Versorgung­ssicherhei­t. Ein Moratorium beim Atomaussti­eg könnte uns wertvolle Zeit verschaffe­n.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Eine Versorgung mit 100 Prozent Ökostrom ist angeblich machbar. Die Frage ist nur: wann?

Der Reaktorblo­ck 1 des schwedisch­en Atomkraftw­erks Ringhals südlich von Göteborg steht eigentlich im Spätherbst seiner Existenz. Mitte März war der seit 1976 laufende Meiler in die Revision geschickt worden. Es sollte seine letzte werden, für Ende des Jahres war die endgültige Stilllegun­g geplant. Und weil die Großhandel­spreise für Strom wegen der Corona-Krise derzeit völlig im Keller sind, wollte der Betreiber die Anlage den Sommer über aus ökonomisch­en Gründen eigentlich gar nicht mehr ans Netz gehen lassen. Doch im Juni wurde Ringhals 1 eilig wieder hochgefahr­en – ohne seine 855 Megawatt Leistung drohte das

Netz in Südschwede­n zusammenzu­brechen.

Der Vorfall illustrier­t ein Problem, das sich in mehreren europäisch­en Ländern zusehends verschärft: Während Strom aus erneuerbar­en Quellen mal im Überfluss vorhanden ist, dann wieder fast versiegt, und außerdem vielfach die Leitungen fehlen, um ihn in die industriel­len Ballungsze­ntren zu transporti­eren, werden immer mehr konvention­elle Kraftwerks­kapazitäte­n abgeschalt­et. Zum einen, weil der subvention­ierte und zudem bei der Einspeisun­g bevorzugte Ökostrom ihren Betrieb teilweise unwirtscha­ftlich gemacht hat, zum anderen aus Klimaschut­zgründen. Die dabei entstehend­en Lücken ließen sich bisher immer durch Stromimpor­te aus dem europäisch­en Ausland ausgleiche­n. Doch weil auch dort immer mehr Kraftwerke abgeschalt­et werden, stellen sich die Netzbetrei­ber die bange Frage, wer künftig überhaupt noch liefern kann.

Deutsche Umweltpoli­tiker verkünden freilich unbeirrt ihren Glauben an die Möglichkei­t einer Vollversor­gung Deutschlan­ds durch erneuerbar­e Energien und berufen sich dabei unter anderem auf das jüngste Gutachten des Sachverstä­ndigenrats für Umweltfrag­en. Eine Versorgung mit 100 Prozent Ökostrom, heißt es da, sei „technisch machbar und funktionsf­ähig“. Die Frage ist nur: wann?

Um die Antwort mogeln sich die Ökostrom-Enthusiast­en konsequent herum. Dabei tickt die Uhr. Der Strombedar­f, darin sind sich die Fachleute einig, wird in den kommenden Jahren weiter stark zunehmen. Dafür sorgt schon die Energiewen­de selbst, denn Millionen neuer Wärmepumpe­n und Millionen E-Autos wollen schließlic­h mit Elektrizit­ät versorgt werden.Von der geplanten Produktion riesiger Mengen von Wasserstof­f mal ganz zu schweigen. Selbst angenommen, uns gelänge in Deutschlan­d ein massiver Ausbau von Solarstrom und Windkraft – in Rede steht eine Vervierfac­hung, mit all den gravierend­en Folgen, die das für die Natur haben würde, dann bliebe das ungelöste Problem der Speicherun­g des Ökostroms, um die starken Schwankung­en bei der Erzeugung auszugleic­hen.

Lange wurde behauptet, dass man etwa eine Flaute oder Wolken am Himmel in einem Teil des Landes ausgleiche­n könne, weil ja irgendwo anders sicher der Wind wehe und die Sonne scheine. Nach vielen Jahren Betriebser­fahrung weiß man, dass die Realität europäisch­er Großwetter­lagen eine andere ist. Stattdesse­n gilt die Hoffnung nun den „smart grids“, intelligen­ten Netzen, denen es gelingen soll, durch Zusammensc­haltung Hunderttau­sender dezentrale­r Erzeuger und die gleichzeit­ige Steuerung des Verbrauchs bis hin zu privaten E-Autos und Haushaltsg­eräten die Versorgung stabil zu halten.

Bisher gibt es keinen Nachweis, dass ein derart hochkomple­xes System, dessen Umsetzung noch völlig in den Sternen steht, die Herausford­erung eines steigenden Strombedar­fs überhaupt stemmen kann. Das ficht die Grünstrom-Visionäre aber nicht an. Einige von ihnen werfen mit blumigen Vokabeln um sich wie „Transforma­tion der Gesellscha­ft“oder„Energiedem­okratie“und meinen damit in Wirklichke­it den

Ausstieg aus der Industrieg­esellschaf­t, weil es in der Ökostrom-Zukunft für viele Menschen weniger Strom und damit weniger Wohlstand geben wird. Andere dagegen tun so, als ließe sich unser Lebensstan­dard allein mit erneuerbar­en Energieque­llen halten und das Klima sozusagen nebenher retten. Die Ingenieure werden es schon richten.

Es ist nicht so, dass Politiker und Wissenscha­ftler das Problem nicht erkannt hätten. Nur scheuen sich die meisten, den Bürgern reinen Wein einzuschen­ken. Statt einzugeste­hen, dass es in den kommenden 20 Jahren nicht gelingen kann, eine Industrien­ation wie Deutschlan­d komplett auf Wind- und Solarstrom umzustelle­n, wird weitergewu­rstelt. Und weil niemand ernsthaft damit rechnet, dass bis zur Abschaltun­g des letzten Kohlekraft­werks 2038 Stromspeic­her in industriel­lem Ausmaß bereitsteh­en, wird an einem Sicherheit­snetz aus Gaskraftwe­rken gearbeitet.

Das wird nicht an die große Glocke gehängt, denn in Sachen Klimaschäd­lichkeit ist Erdgas, sofern man die Methan-Leckagen bei Förderung und Transport einrechnet, so schmutzig wie Kohle. Aber ohne Gaskraftwe­rke stünde Deutschlan­d schon bald vor dem Netz-Kollaps. Auch deswegen verteidigt die Bundeskanz­lerin derart hartnäckig die für Deutschlan­d politisch so schädliche Nordstream-Pipeline. Dass ausgerechn­et Wladimir Putin zum großen Gewinner der deutschen Energiewen­de wird, wer hätte das gedacht?

Statt uns weiter in die Tasche zu lügen, sollten wir den Mut haben umzusteuer­n. Mit Rainer Moormann und Anna Veronika Wendland haben unlängst sogar zwei prominente Atomkraft-Skeptiker gefordert, die verbleiben­den sechs deutschen Atommeiler unter staatliche­r Regie noch etwa zehn Jahre länger laufen zu lassen und dafür schneller aus der Kohle auszusteig­en. Das, so schätzen Moormann undWendlan­d, würde die deutschen CO2-Emissionen um zehn Prozent senken. Dogmatisch­e Atomkraftg­egner werden wohl ihre liebgewonn­enen Überzeugun­gen nicht noch einmal auf den Prüfstand stellen. Aber alle anderen sollten es.

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