Unsere heimliche Sehnsucht nach Vater Staat
Der Berliner Politikwissenschaftler sieht die Corona-Pandemie als Einbruch der Ungewissheit. Den widersprüchlichen Reaktionen darauf stehe die Politik ratlos gegenüber. Autoritäres staatliches Handeln wie in China sähen viele „mit einem gewissen Interesse
In welcher Lage befinden wir uns derzeit eigentlich in Deutschland – ausnahmsweise nicht epidemiologisch gemeint, sondern politisch? Anders gefragt: In welchen gesellschaftlichen Zustand hat uns Corona versetzt?
MÜNKLER Wir haben es mit dem Einbruch von Ungewissheit zu tun. Und da moderne Gesellschaften eigentlich keine allzu große Ungewissheits-Toleranz haben, ist das Land in einen Zustand versetzt worden, der zwischen Indifferenz und Erregtheit schwankt.
Woran machen Sie das fest?
MÜNKLER An der entscheidenden Frage, die sich alle stellen: Wann ist das mit Corona endlich vorbei?Weil diese Frage aber niemand beantworten kann, erwächst daraus das Gefühl, dass die Regierung oder auch der Staat die Lage nicht im Griff haben. So etwas sind wir nicht gewohnt – als eine Gesellschaft, die auf einem verlässlichen Zugriff auf Zukunft beruht: wirtschaftlich, demografisch und so weiter. Das gilt aber auch für die Planung unserer eigenen Lebensentwürfe, die ja häufig sehr weit in die Zukunft reichen und bei denen wir davon ausgehen, dass fast alles so eintritt, wie wir das vorausgeplant haben. Das heißt: Unser durchgeplantes Leben ist in Unruhe versetzt worden.Wir haben es in den Reaktionen darauf mit einer Melange aus Resignation und Empörung, Einsicht und pubertärem Widerstandsgeist zu tun. Die Politik steht dem bislang noch ratlos gegenüber.
Haben wir in dem Sinne bisher auf der Insel der Glückseligen gelebt mit all den Sicherheiten und Verlässlichkeiten? Und kapieren wir erst jetzt, dass wir ein Ausnahmeleben führen durften?
MÜNKLER Das spielt sicherlich eine Rolle. Die Generation meiner Eltern hat den Krieg in der prägenden Phase ihres Lebens ertragen; es gab also noch eine Erinnerung an das radikal Ungewisse. Das ist uns in hohem Maße verlorengegangen. Dafür gibt es viele Gründe, wie etwa auch die Planungseuphorie in den 60er-Jahren. Dann kamen zwar erste Irritationen – wie mit dem Ölpreis-Schock. Dabei handelte es sich aber um zeitlich begrenzte Vorgänge. Das kam erstmals, langsam und vorsichtig noch, mit der Thematisierung des Klimawandels in Schieflage. Denn der ist – ebenso wie die Pandemie – keine herkömmliche Katastrophe im Sinne eines lokalen und zeitlich begrenzten Ereignisses. Bei Corona ist der Eingriff in unser Leben im Vergleich mit der Klimaerwärmung jedoch viel deutlicher und unmittelbarer. Wir müssen uns ständig mit der Pandemie beschäftigen. Damit verbunden ist die Überlegung, zu welcher Risikogruppe wir gehören, welche Risiken wir bereit sind einzugehen, welche finanzielle Folgen es für uns haben könnte, wie solidarisch wir gegenüber den Mitgliedern der älteren Generation sind.
Ist die Frage, wann es endlich vorbei ist, nicht auch schon ein Ausdruck unseres hohen Sicherheitsdenkens? Wir sehnen ein Ende herbei, lernen dabei aber nicht, mit der Pandemie richtig umzugehen.
MÜNKLER Ja, aber das ist ein komplexes Thema. Die Sondermeldungen eines bevorstehenden Impfstoffes, die gelegentlich ja fast mit Fanfarenstößen durch die Medien getragen werden, sind ein Bestandteil des Bedürfnisses, dass es jetzt vorbei sei oder sehr bald vorbei sein könnte. Es ist diese eine Gewissheitssuche, am besten verbunden mit einem genauen Termin. Darin spiegelt sich zudem ein eigentümlichesVerständnis von Wissenschaft wider, die ja keine endgültigen Antworten und letzte Wahrheiten geben kann. So kam es durch widersprüchliche Aussagen, dass Wissenschaftsgläubigkeit in Wissenschaftsablehnung umschlagen konnte.
Verliert denn auch das politische System an Glaubwürdigkeit, wenn es nicht zu schnellen Lösungen kommt und die Freiheitsrechte der Menschen weiter beschneidet? Und wenn Reisewarnungen und Verbote ausgesprochen werden, die letztlich kaum zu überprüfen sind?
MÜNKLER Es gibt immer schon manche Verbote, die der Staat nicht durchsetzen kann. Fahrraddiebstahl ist zwar auch verboten, doch die Aufklärungsrate ist sehr, sehr niedrig. Auch da gibt es kein Vertrauen in die Durchsetzbarkeit staatlicher Gewalt. Das ist das Merkmal eines liberalen Staates, der das Recht auf private Selbstbestimmung respektiert und sich darin fundamental von Methoden etwa in China unterscheidet, wo man in der Lage ist, in ganz anderem Maße Sozialdisziplin und Regelkonformität durchzusetzen und zu erzwingen. Das ist ein paternalistischer Typus von Regierungshandeln. Der Staat tritt auf und sagt: Ich bin der Vater Staat, ich sorge für euch, aber dafür erwarte ich von euch Gehorsam. Dieses Regierungshandeln ist uns sehr fremd, aber wir beobachten es in diesen Zeiten durchaus mit einem gewissen Interesse.
Nur beobachten? Wie groß ist denn die Gefahr, dass solches Regierungshandeln in Bedrohungssituationen wie der Pandemie Schule machen könnte und der Staat plötzlich hierarchischer auftreten könnte, als wir es gewohnt sind?
MÜNKLER Das wäre im „Westen“eine revolutionäre Veränderung: Der Staat wäre ein anderer und die Demokratie beendet. Das wäre so, wie es in der klassischen Familie mit dem kindlichen Vertrauen, dass Vater und Mutter schon alles wissen und darum auch alles richtigmachen. Seien wir ehrlich: Gelegentlich sehnen wir uns ja auch danach. Doch dann müssen wir feststellen, dass wir erwachsen sind und unser eigener Herr sein wollen. Schließlich gibt es noch die angloamerikanische