Opfer von Giftanschlägen sterben aus bestimmten Gründen vergleichsweise langsam und selten allein
tig an der Gift-Methode festgehalten? Zumal es sich obendrein oft um außerordentlich seltene Substanzen handelt, die in der Regel aus Hochsicherheitstrakten stammen: strahlende Isotope, chemische Kampfstoffe. Zu so etwas hat nur ein sehr kleiner und daher überschaubarer Kreis von Personen Zugang. Bei Kim Jong Nam, dem in Ungnade gefallenen Halbbruder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un, war es das tödliche Nervengift VX, das ihm im Februar 2017 am Flughafen von Kuala Lumpur von zwei Frauen ins Gesicht gerieben wurde. Die Frage, wer sowas haben könnte, stellt sich nicht.
Auftragsmörder mögen hartgesotten sein, im Falle eines Giftanschlags aber müssen sie ihre Zielperson nicht einmal sterben sehen. Ein weiterer Vorteil: Ihnen bleibt meistens Zeit, um vom Tatort zu verschwinden. Eine vergiftete Person haucht ihr Leben nicht schlagartig in einem Park aus, wie der Exil-Tschetschene Selimchan Changoschwili, der 2019 im Berliner Kleinen Tiergarten hinterrücks von einem aus Moskau über Paris eingereisten russischen Staatsbürger erschossen wurde (der gefasst werden konnte und jetzt vor einem deutschen Gericht steht). Oder in einem Aufzug, wie die kremlkritische russische Journalistin Anna Politkowskaja, die am 7. Oktober 2006 –Wladimir Putins Geburtstag – auf demWeg in ihre Moskauer Wohnung aus nächster Nähe mit einem Kopfschuss getötet wurde.
Opfer von politisch motivierten Giftanschlägen sterben aus einem bestimmten Grund vergleichsweise langsam – und selikonische Bild, es zeigt Litwinenko im November 2006 nach dreiwöchigem Martyrium, wie er ohne Haare im Hospital liegt, in die Kamera blickt und aufgegeben hat. Wenige Stunden, bevor er das Bewusstsein verliert, sagt er der „Times“noch, der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht. Erst spät wird in seinem Körper radioaktives Polonium entdeckt.
Nach dem Exitus des Opfers beginnt das Finale der Verschleierung. Ein politischer Giftmord, so hohe Wellen er am Ende auch schlagen mag, bietet die ideale Plattform für Nebelmaschinen, die den Blick auf die Tatsachen trüben sollen. War das Opfer vielleicht krank? Hatte es getrunken? War es süchtig? Nahm es Medikamente? Wenn ja, vielleicht die falschen? So war es ebenfalls im Fall Nawalny. Ob der Kreml auch hinter dieser Attacke steckt, lässt sich wie bei den anderen Verdachtsfällen wohl nie eindeutig beweisen. Die Tatsache aber, dass der russische Geheimdienst Nawalny lückenlos überwachte, lässt den Schluss zu, dass Moskau den oder die Täter zumindest deckt.
Und auch das ist durchaus ein Teil der Drohung:Wir könnten durchaus unsere Finger im Spiel haben. Aber wir werden so lange so viele Behauptungen verbreiten, bis die Wahrheit am Ende nur noch eine unter vielen Versionen ist. Auch wenn sie so abstrus klingen wie die Unterstellung des Vorsitzenden der russischen Staatsduma,Wjatscheslaw Wolodin, der die Frage aufwarf, ob die Vergiftung Nawalnys nicht tatsächlich eine Provokation Deutschlands sei.
Der Anschlag auf Nawalny ist missglückt. Ebenso wie die Dioxin-Attacke auf den ukrainischen Oppositionspolitiker Viktor Juschtschenko, der im Wahlkampf 2004 gegen den damaligen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch antrat – einen Freund Putins. Und auch der frühere russische Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia überlebten das Nervengift Nowitschok, das in ihre Körper gelangt war. Beide scheinen jedoch abgetaucht zu sein, und auch der noch immer von der Vergiftung gezeichnete Jutschenko entgegnete erst kürzlich auf die Frage, ob er glaube, dass Putin der Auftraggeber gewesen sei:„Ich kenne die Antwort, aber ich kann sie nicht aussprechen.“
Nawalny hingegen beabsichtigt offenbar nicht zu schweigen.„Die russische Führung hat einen solchen Hang zu Vergiftungen entwickelt, dass die so bald nicht aufhören werden. Da wird meine Krankengeschichte noch lehrreich sein“, sagte er im „Spiegel“. Sobald es seine Gesundheit zulasse, werde er in Moskau weitermachen. Und dann? Diese Frage ist so offen wie die, inwiefern das Gift, das Nawalny galt, die Beziehungen Deutschlands, der Europäischen Union, des ganzen freien Westens zu Russland verändern wird.