Rheinische Post

Mithilfe oder Anschwärze­n?

Nicht jeder, der Verstöße auch in Corona-Zeiten meldet, ist ein Denunziant.

- LOTHAR SCHRÖDER

GOTT UND DIE WELT

Die Corona-Krise scheint ein weiteres Virus in sich zu tragen: das der Denunziati­on. Etwas vornehmer formuliert, geht es um sogenannte Initiativm­eldungen, mit denen Bürger dem jeweiligen Ordnungsam­t Verstöße gegen Corona-Verordnung­en anzeigen. Auf diese Möglichkei­t hatte unlängst der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder dezent hingewiese­n, während das Ordnungsam­t der Stadt Essen für seine besorgten Bürger sogar ein Meldeformu­lar bereithält, mit dem Übertretun­gen online beschriebe­n und angezeigt werden können – flugs und einfach. Kritiker scheuten keine Vergleiche und attestiert­en der Ruhrmetrop­ole, damit eine „Blockwart-Mentalität“zu schüren, wie sie auch im Nationalso­zialismus gepflegt wurde. Spült die Pandemie jetzt also schlechte Charaktere­igenschaft­en an die Oberfläche? Tatsächlic­h kann der Fingerzeig auf andere das Gefühl plötzliche­r Macht wecken, aber auch das eigene Sicherheit­sbedürfnis befriedige­n: Wer das Normale schätzt, muss jede Abweichung davon wenigstens als Störung empfinden. Ist also der Denunziant „der größte Lump im ganzen Land“, wie ihn August Heinrich Hoffmann von Fallersleb­en (1798– 1874) – immerhin der Dichter unserer Nationalhy­mne – beschrieb?

Aber heißt das dann auch, gleich alles hinzunehme­n, was einen Verstoß darstellt? Denunziati­on bedeutet zunächst sehr neutral nur „Anzeige erstatten“. In der Tat sind die Grenzen fließend zwischen einer Meldung aus niederen Beweggründ­en und einer aktiven Mithilfe. Jede Anzeige wird so zu einer Werteentsc­heidung. Es gilt nämlich die Frage zu klären: Was hat einen höheren Wert? Das Einhalten etwa des Versammlun­gsverbots oder das Recht auf die vermeintli­che Freiheit des Bürgers? Welche Verantwort­ung ist man selbst bereit für die Gemeinscha­ft zu übernehmen? Oder wie gleichgült­ig ist man? Extrem wichtige Fragen sind das – und nicht nur in Corona-Zeiten.

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