Auf der Kippe
Florida ist das Schwergewicht unter den Swing States. Republikaner und Demokraten werben vor allem um die Stimmen der Latinos.
ORLANDO Bässe wummern, ein Drummer legt sich ins Zeug, ein Duo singt rockige Lieder. Bevor die Musik verklingt, läuft Nino González mit federnden Schritten auf eine Bühne, die eher an eine Theaterkulisse denken lässt als an eine Kirche. Hinter ihm sind Symbole des Wohlstands zu sehen: ein Einfamilienhaus, ein prall gefüllter Geldsack samt Dollarzeichen. Der Pastor predigt die Prosperity Gospel, das Wohlstandsevangelium, wonach Erfolg und Glaube Hand in Hand gehen. Wer Geld macht, ist automatisch gottesfürchtig. Und umgekehrt. „Hört, es gefällt Gott, wenn unsere Finanzen gedeihen!“Dann holt er einen Immobilienmakler auf die Bühne, der gerade intensiv Wahlkampf macht.
Jesus Martinez unterstützt Donald Trump. Einmal wurde er sogar insWeiße Haus eingeladen, wo eine Runde informeller Berater dem Präsidenten Tipps für den Umgang mit Latinos gab. Jetzt will er ins Staatenparlament Floridas einziehen, und Reverend González bittet die Gemeinde, für ihn zu beten. Kein Zweifel, Iglesia el Calvario, eine evangelikale Megakirche in Orlando, ist eine Bastion der Roten, wie man die Republikaner nach ihrer Parteifarbe nennt. Ihr Pfarrer stammt aus Puerto Rico, er predigt auf Spanisch, nach drei, vier Sätzen wird ins Englische übersetzt, obwohl das wahrscheinlich gar nicht nötig wäre.
Praktisch alle, die auf den gut gepolsterten Bänken sitzen, mit Maske vor Mund und Nase, mit Abstand zum Nachbarn, sind des Spanischen mächtig. Was man schon daran erkennt, dass sie über die hier und da eingestreuten Bonmots des Geistlichen bereits lachen, bevor gedolmetscht wird. Aus Respekt vor dem Virus, scherzt González, fahre er zum Gruß nur noch die geballte Faust aus, statt Leuten die Hand zu geben.„Es kommt mir vor, als hätte ich mehr Boxschläge ausgeteilt als Mike Tyson in seiner ganzen Karriere.“Irgendwann spricht er von den glänzenden finanziellen Siegen in naher Zukunft, auf die man sich schon jetzt einstellen möge. Er klingt jetzt ein bisschen wie Trump, der prophezeit, dass es nach der Talfahrt der Corona-Krise steil aufwärts geht, so steil wie noch nie in der Geschichte der USA. Vorausgesetzt, er bleibe im Amt.
Die Latinos – um kaum eine andere Bevölkerungsgruppe wird heftiger geworben, gerade in Florida, dem Schwergewicht unter den
Swing States. Jeder Vierte der 21 Millionen Floridians hat Wurzeln in Lateinamerika. Da wären die Kubaner, die nach Fidel Castros Revolution nach Miami flohen und deren ältere Jahrgänge sich klar zu den Roten bekennen, während ihre Enkel für alles offen sind. Da wären Emigranten aus Nicaragua und Venezuela, eher konservativ, weil sie unter linksgerichteten Regimes schlechte Erfahrungen gemacht haben. Da wären die Puertoricaner, die zweitgrößte Latino-Gruppe im Sunshine State, mehrheitlich den Demokraten zugeneigt, was jedoch nicht in Stein gemeißelt ist. Einer Umfrage des spanischsprachigen Senders Univision zufolge wollen 52 Prozent der Hispanics in Florida für Joe Biden votieren, 36 Prozent für Donald Trump, die übrigen schwanken noch. Zum Vergleich: Hillary Clinton kam 2016 auf 62 Prozent der Latino-Stimmen des Staates. Angesichts der Unentschlossenen wird um jede Stimme gekämpft. Auch sonntags in einer Megakirche.
Benjamin Rivera, einer der Gottesdienstbesucher, zog aus New York, wohin seine puertoricanischen Eltern ausgewandert waren, in den Süden. Er fuhr einen Lastwagen, erlitt bei einem Unfall ein Schädeltrauma und kann seitdem nicht mehr arbeiten. Solange er wähle, betont er, habe er den Roten den Zuschlag gegeben. Bis sich Trump als miserabler Krisenmanager entpuppte. Nicht erst während der Pandemie, sondern bereits 2017, nachdem der Hurrikan„Maria“Zerstörung über Puerto Rico gebracht hatte. Statt beim Wiederaufbau zu helfen – die Bewohner der Insel sind US-Staatsbürger –, warf Trump bei einem Besuch, wie bei einer Showeinlage, Toilettenpapierrollen in die Menge. In Riveras Augen eine Respektlosigkeit ersten Ranges. Was Rivera dem Präsidenten nicht verzeihen will, ist dessen kalte Art in Situationen, in denen Menschen auf Hilfe angewiesen sind. „Nächstenliebe ist ein Fremdwort für diesen Mann“, schimpft der Ex-Trucker.„Er braucht die Bibel nur für Fototermine. Die Trumps kennen nur einen Gott: Geld.“Rivera wird Biden wählen, aus Protest gegen Trump.
Weiter nach Kissimmee, südlich von Orlando, in eine Stadt, deren Einwohnerzahl sich seit 1995 mehr als verdoppelt hat. In der Nähe der Freizeitparks Disney World gelegen, ist sie ein Magnet für Migranten aus Mittelamerika und der Karibik. Für die „Frühwähler“heißt es, im Dauerregen am Robert Guevara Center Schlange zu stehen, einem Gemeindezentrum, das als Wahllokal für Frühwähler dient. Angela Garcia hat Biden den Zuschlag gegeben, auch bei ihr war es eher eine
Stimme gegen den Amtsinhaber als für den Herausforderer. Im Mai starb ihrVater an Covid-19. Er war 63. Hätte Trump schneller gehandelt, um die Gefahr einzudämmen, glaubt sie, wäre José Garcia heute noch am Leben. Die Lehrerin, alleinerziehende Mutter von drei Söhnen, war aus New Jersey nach Florida übergesiedelt, um sich um den Vater zu kümmern. Der befand sich nach einer Lebertransplantation auf dem Weg der Genesung. Dann steckte er sich an. „Unsere Regierung hat versagt“, wiederholt Angela Garcia ihren Vorwurf. Deshalb, nur deshalb, wechsle sie jetzt politisch die Seiten.
Alex Otaola trägt einen coolen Bart und T-Shirts mit ausgefallenen Mustern. Der 41-Jährige lebt in Miami, wo er es mit seiner Youtube-Show „Hola! Ota-Ola“zu lokalem Ruhm gebracht hat. Mit Mitte 20 aus Kuba in die USA gekommen, war er anfangs ein Anhänger Barack Obamas, bevor er sich zum glühenden Trump-Fan wandelte. Er begründet es mit dem Linksruck der Demokraten, mit dem Aufstieg der New Yorker Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, die sich als demokratische Sozialistin definiert. Was die Partei heute anstrebe, sei nichts anderes als der Sozialismus, den er hinter sich gelassen habe. Otaola will Migranten seiner Generation, jüngere Migranten kubanischer Herkunft, massenhaft ins Lager Trumps lotsen. Davon, ob es ihm gelingt, kann abhängen, wer in Florida das Rennen macht.
Chris Stanley weiß, dass sie in ihrem Umkreis die Trommel für einen Außenseiter rührt. „Schon klar, Joe Biden wird in den Villages nicht plötzlich vorn liegen“, sagt sie. Die Villages, das sind 60.000 Golfcarts, mehr als 100 Tennisplätze, 96 Freizeitzentren und 106.000 Wähler, von denen 57 Prozent bei den Republikanern und nur 24 Prozent bei den Demokraten eingetragen sind. Eine Ansammlung von Retortensiedlungen für ältere Menschen. Dass Trump im Rentnerparadies als Erster durchs Ziel gehen wird, steht im Grunde schon fest. Die Frage ist nur, mit welchemVorsprung. Mit 70 Prozent der Stimmen wie 2016? In Florida kann die Antwort darauf die ganze Wahl entscheiden.
Chris Stanley glaubt Zeichen zu erkennen, die ihr Mut machen. Die 56-Jährige leitet den Ortsverein der Demokraten. Neuerdings, erzählt sie, meldeten sich dort immer öfter Leute von der „anderen Seite“: „Ich bin Republikaner, und das werde ich bleiben. Wie kann ich helfen, damit wir den Kerl aus dem Weißen Haus verjagen?“Trumps fahrlässiger Umgang mit dem Virus, beobachtet sie, lasse manche Senioren, die ihm bislang die Treue hielten, auf Distanz gehen.
Aber es gehe um mehr, um den Charakter der Republik. „Es ist eine Schicksalswahl“, sagt Stanley. Weitere vier Jahre Trump an der Macht, das würde die amerikanische Demokratie vielleicht nicht überstehen. Der Mann benehme sich doch schon jetzt wie ein Diktator. „Er sagt, ich bin der Präsident, ich kann tun und lassen, was ich will. Dabei lernen unsere Kinder schon in der dritten Klasse: Nein, das kannst du nicht.“