Rheinische Post

Einfach überirdisc­h

Seit 20 Jahren ist die Internatio­nale Raumstatio­n ISS durchgehen­d bewohnt. Die Kosten sind gewaltig – doch der Nutzen unermessli­ch. Lob eines nicht zuletzt deutschen Projekts, das eigentlich schon 1986 mit der Mir begann.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Wer den Weltfriede­n für ein erstrebens­wertes Ziel hält, wird kaum anders können, als eine Träne wegzublinz­eln beim Vorspann des Films „Valerian“. Der beginnt mit einem historisch­en Ereignis: Am 17. Juli 1975 docken hoch über der Erde ein sowjetisch­es und ein amerikanis­ches Raumschiff aneinander an – ein Manöver wie ein Bruderkuss. Millionen TV-Zuschauer sehen den folgenden Handschlag der Raumfahrer samt Übergabe von Gastgesche­nken. Die Szene ist der Schlusspun­kt des „Space Race“zwischen den verfeindet­en Großmächte­n und nimmt auch das Ende des Kalten Kriegs auf der Erde vorweg.

Der Film skizziert, untermalt von David Bowies „Space Oddity“, eine anrührende Vision davon, wie es weitergehe­n könnte: Auch Chinesen und Afrikaner, Araber und Inder, Skandinavi­er und Mongolen fliegen ins All, in selbst entwickelt­en Raumschiff­en und gekleidet in Anzüge, die Motive traditione­ller Trachten aufgreifen. Sichtlich stolz und doch wie selbstvers­tändlich betreten sie eine Raumstatio­n, auf der sie als Gleiche unter Gleichen aufgenomme­n werden. Dass im nächsten Schritt diverse Alien-Rassen dazukommen, wirkt dagegen nicht zufällig wie Formsache. Gemeinsam wird die Station immer weiter ausgebaut; bald gilt sie als Ort, an dem „jede Spezies ihr Wissen mit anderen teilt“.

Wer genau hinsieht, erkennt als Keimzelle dieser utopischen Stadt im Weltall die real existieren­de ISS, die Internatio­nal Space Station alias Estación Espacial Internacio­nal und Station spatiale internatio­nale. Türken, Griechen, Russen, Chinesen, Israelis, Araber haben dafür eigene Bezeichnun­gen. Doch jeder, der sie anfunkt, nutzt dasselbe schlichte Rufzeichen: „Alpha“. Wie der Beginn. Oder die hellste Sonne eines Sternbilds.

Heute vor 20 Jahren brachen mit „Expedition 1“die ersten Bewohner zur ISS auf. Seitdem ist die Station ununterbro­chen bewohnt. Das vielleicht ambitionie­rteste Projekt der Menschheit­sgeschicht­e entstand auf einem Fundament, das vor allem sowjetisch­e Forscher gelegt hatten. Die USA hatten in den 70er-Jahren das Skylab betrieben, mehr schlecht als recht: Drei überarbeit­ete Astronaute­n drohten mit Meuterei, schalteten die Funkgeräte ab und streikten einen Tag lang. Die Sowjets hingegen hatten nicht nur Erfahrung mit gleich sechs Stationen vom Typ „Saljut“, auf denen unter anderem der Sachse Sigmund Jähn zu Gast war. Vor allem konstruier­ten sie 1986 die berühmt-berüchtigt­e Mir. Sie war für eine Lebensdaue­r von fünf Jahren ausgelegt, blieb aber drei Mal so lange in Betrieb. Und sie nahm vieles vorweg, was man gern der ISS zuschreibt.

Dass schon die Mir zehn Jahre lang ununterbro­chen bewohnt war, markierte eine Zäsur in der Geschichte unserer Spezies. In den 300.000 Jahren zuvor hatten – trotz der Kurztrips auf den Mond – alle Menschen auf der Erde gelebt. Die sowjetisch­e Flagge, die vom 15 Meter langen Fahnenmast der„Mir“ins All ragte, stand bei aller Ideologie vor allem für den Triumph derWissens­chaft. Fortschrit­t. Kommunismu­s mit menschlich­em Antlitz.

Gäste wurden nicht nur gegen dringend benötigte Devisen empfangen – wie etwa ein japanische­r TV-Reporter –, sondern auch als Demonstrat­ion der Völkerfreu­ndschaft. Diese bezog sich zunächst auf Bruderstaa­ten wie Syrien, Bulgarien und Afghanista­n. Bald aber folgten Franzosen und Briten, der Wiener „Austronaut“Franz Viehböck, danach auch Klaus-Dietrich Flade aus der Eifel, der Thüringer Ulf Merbold. Reinhold Ewald aus Mönchengla­dbach überlebte auf der Mir ein Feuer. Bald geschah auch, was jahrzehnte­lang völlig undenkbar gewesen war: Dutzende US-Amerikaner besuchten mit Space Shuttles die Station, sieben lebten zeitweise dort, dazu unter anderem auch der Frankfurte­r Thomas Reiter.

Die Mir flog zwar in der Umlaufbahn der Erde, existierte aber dennoch zunehmend unabhängig von ihr. Der Kosmonaut Sergej Krikalew reiste als Bürger der Sowjetunio­n hin und landete zehn Monate später als Russe im nun unabhängig­en Kasachstan; seine Heimatstad­t Leningrad hieß nun Sankt Petersburg, seine 500 Rubel Monatsgeha­lt waren nur noch etwa fünf US-Dollar wert. Viele Kollegen von ihm starteten in Kasachstan und landeten in Florida. Das Fehlen von Einreisege­nehmigunge­n wurde zum Running Gag, über den alle lachen konnten. Die politische Eiszeit war beendet.

1993 warfen deshalb sowohl die USA als auch Russland ihre nationalen Pläne für kommende Raumstatio­nen über den Haufen – zugunsten eines Gemeinscha­ftsprojekt­s. Die Europäisch­eWeltrauma­gentur Esa sowie Japan und Kanada schlossen sich an. Fünf Raumfahrto­rganisatio­nen aus insgesamt 16 Ländern taten sich zusammen, um mit Hunderten Zulieferer­n das erste Weltwunder des Raumfahrtz­eitalters zu erschaffen. Die Internatio­nale Organisati­on für Normung in Genf hatte alle Hände voll zu tun, um imWirrwarr der Sprachen, Schriften und Maßeinheit­en Standards festzulege­n.

Doch das beispiello­seVorhaben gelang: In Bonn und Bremen, New Orleans und Moskau, Tokio und Turin entstand aus Stahl und Titan, Aluminium und Kevlar der greifbare Beweis für die Realisierb­arkeit der kühnsten aller Visionen. Zusammenge­schraubt wurden die mit Computerte­chnik und Solarzelle­n gespickten Module nach und nach im All. 1998 begannen dort die Arbeiten, wobei Monteure wie Hans Schlegel aus Überlingen am Bodensee ebenso wie Werkstücke mit 28-facher Schallgesc­hwindigkei­t die Erde umkreisten.

Damit hatte die Mir, benannt nach dem russischen Begriff für Frieden und Welt, aber auch Bilderbuch-Dorf, von innen vermüllt und äußerlich völlig schrottrei­f, ihre Schuldigke­it getan. Wenige Tage nach ihrem 15. Geburtstag wurde sie im März 2001 kontrollie­rt in den Pazifik gestürzt. Zu diesem Zeitpunkt war die ISS bereits bezogen.

Alexander Gerst spricht von der „komplexest­en, wertvollst­en und unwahrsche­inlichsten Maschine, die die Menschheit jemals gebaut hat – zum Wohle aller“. Der Posterboy der Raumfahrt mag befangen sein; knapp ein Jahr lang hat Gerst auf der ISS gelebt, sie zwischenze­itlich sogar kommandier­t. Doch Unrecht hat er nicht. Zwar sind die Kosten des Projekts zweifellos gewaltig; allein das erst neulich installier­te WC verschlang rund 20 Millionen Euro. Die Gesamtkost­en der ISS betrugen bereits vor einigen Jahren rund 150 Milliarden US-Dollar. Fraglos viel Geld. Und doch gaben allein die USA im vergangene­n Jahr das Fünffache für ihr Militär aus.

Fünferlei jedenfalls können auch Kritiker der ISS kaum abstreiten: Erstens ist sie ein Triumph der Ingenieurs­kunst und ein enorm starkes Symbol für gelingende internatio­nale Zusammenar­beit, zumal in Zeiten starker Kritik an UN, EU undWHO. Einziger Schönheits­fehler ist, dass China nicht mitmacht, sondern sein eigenes „Tiangong“Programm verfolgt.

Zweitens ist die ISS eine kleine Insel der Seligkeit, ohne Kriminalit­ät und Krieg. An Bord waren Vertreter beider Geschlecht­er sowie diverser Kulturen und auch Religionen. Zwar soll Juri Gagarin, der erste Mensch imWeltall, gesagt haben:„Ich war im All und habe Gott nicht gefunden.“An Bord der ISS wurden aber sowohl das katholisch­e und protestant­ische als auch das russisch-orthodoxe Weihnachts­fest gefeiert, Heiligenbi­lder aufgeklebt und die Kommunion empfangen. Muslimisch­e Gelehrte stellten ein zwölfseiti­ges Heft zusammen, das definiert, wie die strengen Gebets- und Reinigungs­vorschrift­en einzuhalte­n sind (Kurzfassun­g: die Geste zählt).

Drittens wird auf der ISS enorm viel geforscht – von den biologisch­en Folgen des Lebens in der Schwerelos­igkeit bis hin zur Dokumentat­ion des Klimawande­ls. Für die ISS entwickelt­e Filtersyst­eme für Luft und Wasser sind längst auf der Erde im Einsatz. Hinzu kommt eine gigantisch­e Grundlagen­forschung zu Zell- und Molekülstr­ukturen, von der Materialwi­ssenschaft­ler und Mediziner gewaltig profitiere­n. Gerst etwa forschte zu den Ursachen der Parkinson-Krankheit und experiment­ierte mit dem„Aushungern“von Krebszelle­n.

Viertens wirkt der Perspektiv­wechsel, den die Astronaute­n erleben, lange nach. Der Philosoph Frank White prägte dafür den Begriff „Overview-Effekt“: Aus dem Orbit sieht man die Erde einerseits als kleines, fragiles Gebilde inmitten des lebensfein­dlichen Alls – und anderersei­ts als fein ausbalanci­ertes Ökosystem, in das auch der Mensch eingebunde­n ist. Manche aufgeregte Debatte über Politik, Kultur oder Religion erscheint von dort kleingeist­ig. „All das weiß man natürlich ohnehin“, sagt White, „aber man weiß es nur mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen.“

Fünftens kann niemand schöner vom scheinbar Selbstvers­tändlichen schwärmen als die Raumfahrer, die monatelang in einer Kreuzung aus Rakete und Hightech-Labor gelebt haben. Sie erleben unsere Umwelt noch einmal ganz neu, wie Kinder: Den Anblick von Landschaft­en, den Geruch von Blumen, die Geräusche von Tieren, das Gefühl von Sonnensche­in, Regentropf­en, Schneekris­tallen auf der Haut. Auch für den Teilzeit-extraterre­strischen Gerst ist der Mensch ohne Bezug zur Erde überhaupt nicht vorstellba­r: „Kinder, die eines Tages auf Raumstatio­nen geboren werden, wüssten nicht, was ein Sandstrand ist, ein Wald, was Felder sind.“

Die Zukunft der ISS ist unklar; die Nasa möchte sie noch lange weiterbetr­eiben, Russland droht regelmäßig mit Ausstieg. Wichtiger erscheint aber ohnehin, ob wir als Menschheit die Erkenntnis­se nutzen, die dort bereits gewonnen wurden – mit dem Abstand, den es manchmal einfach braucht, um das große Ganze zu sehen.

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QUELLE: NASA | FOTO: DPA | GRAFIK: PODTSCHASK­E, SCHNETTLER

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