Bitte nicht verzählen!
Donald Trump inszeniert sich als Opfer von Wahlbetrug. Es ist eine Strategie, die Politiker wie er nutzen, um gezielt Zweifel an der Integrität von Wahlen und Institutionen zu säen. Davon lebt auch die Af D in Deutschland.
Einen der wichtigsten Jobs der Welt haben derzeit die vielen Wahlhelfer, die in den USA die Stimmzettel sichten. Am Donnerstag lief die Auszählung in den „Battleground States“weiter, obwohl Präsident Donald Trump erneut ihr Ende forderte. Joe Biden stand kurz vor der entscheidenden Marke von 270 Wahlmännerstimmen.
Es ist Mitte August dieses Jahres, als Donald Trump mit in die Ferne schweifendem Blick ansetzt, um seine Anhänger einzuschwören. „The only way we lose this election is if this election is rigged“, sagt der US-Präsident bei diesemWahlkampfauftritt in Wisconsin: Die einzige Möglichkeit, die Wahl zu verlieren, sei Wahlbetrug. „We have to be very careful, we can't let that happen“, fügt er hinzu. Man müsse sehr vorsichtig sein, das dürfe nicht geschehen.
In Wisconsin setzte sich Trump 2016 mit nur 0,7 Prozentpunkten Vorsprung gegen seine damalige demokratische Rivalin Hillary Clinton durch. Nun liegt dort Kontrahent Joe Biden mit weniger als einem ProzentpunktVorsprung vor Trump. All das ahnte er im August wohl. Sein Auftritt wirkt wie viele seiner Statements und Tweets nur wie ein Beitrag zu jenem Donald-Trump-Drehbuch, an dem er offenbar monatelang gefeilt hat.
Und die Dramaturgie passt perfekt zu seiner Inszenierung: Aus der Wahlnacht wurde ein Wahlkrimi, ein Nailbite-Event, ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das Trump den Raum für seine Strategie erst eröffnet hat: Denn die Auszählung etlicher Briefwahlstimmen ist der Grund für die Verzögerung der Entscheidung – und sie ist der Punkt, an dem Trumps massive Betrugsvorwürfe ansetzen.
Es sind Vorwürfe, die aus Sicht jenseits des Atlantiks gerne als abstruse Ausfälle eines Irren abgetan werden. Dabei täuscht sich, wer glaubt, Donald Trumps Wahl-Delegitimierungs-Kampagne sei eine Ausnahmeerscheinung weit weg von Deutschland. Denn die Mär vom Wahlbetrug ist ein Narrativ, das immer schon beliebt war bei Rechtspopulisten – auch bei der AfD.
Schon 2013 unter ihrem ersten Bundesvorsitzenden Bernd Lucke zeigten die Populisten Reflexe in Trump'scher Manier. So gab es nach ihrem ersten gescheiterten Versuch, in den Bundestag gewählt zu werden, misstrauisches Raunen in Mitgliedergruppen, die das große Komplott gegen sich witterten. Die AfD startete in den folgenden Jahren, vor allem zur Bundestagswahl 2017, die Kampagne „Werde Wahlbeobachter!“– um sukzessive Zweifel am deutschenWahlsystem zu nähren.
Helfen ließ sich die AfD 2019 sogar auch von der „Ein Prozent“-Bewegung, einer vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuften Gruppierung. „Ein Prozent“betrieb die bewusst neutral klingende WebseiteWahlbeobachtung.de – um sie mit Anti-System-Botschaft zu verknüpfen nach dem Motto, es gehe bei der Wahl in Deutschland nicht mit rechten Dingen zu. Flankiert wurde die Aktion mit Plakaten, Aufklebern und Werbung im Netz.
Dass es solche Kampagnen nicht nur in den USA gibt, überrascht Politikberater Johannes Hillje nicht. „Das Thema spielt in den Echokammern der AfD seit Jahren eine große Rolle: Erst wird die Integrität vor der Wahl offen angezweifelt, um so die Wahl im Nachhinein infrage stellen zu können.“Ziel von Rechtspopulisten sei die Untergrabung demokratischer Prozesse, so der Kommunikationsexperte. „Das ist das zentrale Element einer Anti-System-Partei, sowohl bei der AfD in Deutschland als auch in den USA.“
Ihre Zielgruppen sind allerdings unterschiedlich groß – während die knappen Wahlergebnisse in den USA zeigen, wie viele Unterstützer Trump hat und wie gespalten die USA sind, schätzen Experten den Resonanzraum in Deutschland wesentlich geringer ein. Politikwissenschaftlerin Katharina Nocun etwa sieht die AfD als laute Minderheit. „AfD-Politiker erzeugen gerne das Gefühl, sie würden für eine große Gruppe in Deutschland stehen, für ,das ganzeVolk' – um sich attraktiver zu machen. Wähler wollen schließlich lieber aufseiten der Gewinner sein, auch wenn es nur so aussieht.“
Desinformation, Delegitimation und Verschwörungsmythen bemühten Populisten ganz gezielt, sagt Nocun, Autorin des Buchs „Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“. Sie schützten sich so proaktiv vor schlechten Wahlergebnissen, vor der öffentlichen Manöverkritik und auch vor parteiinternen Diskussionen. Genauso, wie sie sich mit der Diskreditierung der „Lügenpresse“vor Faktenchecks abschirmten und sich so ihre eigene Welt schafften. „Rechtspopulisten wollen den Diskurs zerstören“, sagt Katharina Nocun,„nicht daran teilhaben.“
Das zeigte die Kampagne am Wahltag 2017, als auf Twitter plötzlich der Hashtag „Wahlbetrug“zum Trend wurde, was sich später auf Computerprogramme zurückführen ließ. Das zeigten bei den Landtagswahlen 2019 der inzwischen von der AfD ausgeschlossene Andreas Kalbitz und Thüringens Spitzenkandidat Björn Höcke, die offen von Wahlbetrug sprachen – wofür es keine Anhaltspunkte oder Belege gab. Und das zeigt die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch, die an diesem Donnerstag im Deutschlandfunk Trumps Betrugsvorwürfen beipflichtete und forderte, die Briefwahl in Deutschland abzuschaffen.
Auf die Bundestagswahl im Herbst 2021 blickt Katharina Nocun einerseits mit Sorge: „Einige AfDler werden die Schemata von Trump sicherlich übernehmen. Andererseits ist Deutschland nicht die Vereinigten Staaten“, so die 34-Jährige. Die AfD sei eine laute, noch überschaubare Minderheit. Trotzdem könnte der Graben zu jenen tiefer werden, die der Politik bereits abtrünnig geworden sind. Die Fronten könnten sich verhärten in den Parallelrealitäten, wo sich Querdenker und Rechtsnationale via Telegram immer besser vernetzt haben. „Das kann nicht zuletzt auch die Gewaltbereitschaft fördern und Menschen animieren, gegen vermeintliche Strippenzieher herbeifantasierter Verschwörungen letztlich auch zur Tat zu schreiten“, warnt Nocun. Auch wenn die befürchteten Ausschreitungen nach dem Wahltag in den USA bisher ausgeblieben sind.
„Rechtspopulisten wollen den Diskurs zerstören“
Katharina Nocun Politikwissenschaftlerin