175 Missbrauchsopfer im Bistum Aachen
Gutachter haben Missbrauchsfälle im Bistum Aachen untersucht. Ihre Ergebnisse erschüttern. Verantwortlichen ging es demnach lange vor allem darum, ihr Ansehen zu wahren. Opfer spielten kaum eine Rolle.
AACHEN (dpa) Als eine der ersten Diözesen in Deutschland hat das Bistum Aachen ein unabhängiges und ohne Einschränkungen erstelltes Gutachten über den eigenen Umgang mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs veröffentlicht. Die vom katholischen Bistum beauftragte Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl stellte am Donnerstag ihr Gutachten bei einer im Internet übertragenen Pressekonferenz vor. Bei den Recherchen wurden Hinweise auf 175 Missbrauchsopfer im Bistum Aachen bis 2019 gefunden.
AACHEN 468 Seiten, die es in sich haben, mit Aussagen, die bei aller juristisch angebrachten Zurückhaltung deutlich genug sind. Schwarz auf weiß dokumentiert und bewertet die Münchener Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl den Umgang des Bistums Aachen mit Fällen sexuellen Missbrauchs in den Jahren 1965 bis 2019. Bischof Helmut Dieser und sein Generalvikar Andreas Frick, die das Gutachten in Auftrag gegeben haben, nehmen das voluminöse Werk am Donnerstag entgegen, äußern sich jedoch zunächst nicht dazu, weil sie nach eigenen Angaben den Inhalt nicht kennen. UlrichWastl und Martin Pusch von der Münchener Kanzlei bestätigen das.
Was in dem Gutachten zu lesen ist, wird im Bistum noch für viel Kopfzerbrechen und Diskussion sorgen. Und man wird daraus Konsequenzen ziehen müssen – nicht nur hier, sondern in der gesamten katholischen Kirche Deutschlands. Deren Bischöfe, zahlreiche Kleriker und viele Mitglieder ihrer Kirche diskutieren seit Jahren über Ursachen des Missbrauchs und notwendige Reformen. Dafür ist das Münchener Gutachten ein wichtiger Beitrag. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller, der seine Kirche seit Langem scharf kritisiert und einschneidende Reformen fordert, hat der Studie für Aachen „Goldstandard“bescheinigt.
Der Inhalt ist brisant: Priester, die des sexuellen Missbrauchs überführt waren, konnten jahrzehntelang im Bistum Aachen „mit der Milde der kirchlichen Hierarchie rechnen“, sagt Pusch. Kritisiert wird vor allem der Umgang mit den Opfern. Sie seien vor 2003 kaum wahrgenommen worden. Wenn doch, dann oft nicht wegen des ihnen zugefügten Leids, „sondern weil man sie als Bedrohung für das Bistum und die Institution Kirche ansah“.
Es gehe seiner Kanzlei nicht darum, irgendjemanden an den Pranger zu stellen, sagt Wastl. Das Ziel des Gutachtens sei es vielmehr, für die Zukunft eine unabhängige und offene Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs unter Beteiligung der Opfer zu erreichen. Die Juristen haben mit Verantwortlichen und Zeitzeugen gesprochen. Wastl hebt hervor, „mit welcher Offenheit und Bereitschaft zur Selbstkritik“die Befragten in den meisten Fällen Fragen beantwortet hätten.
Die fünf Hauptverantwortungsträger im Bistum Aachen während der Jahre 1965 bis 2015 werden in dem Gutachten deutlich kritisiert. So wirft es Bischof Johannes Pohlschneider (1954 bis 1974) Verantwortungslosigkeit, Vertuschung und unangemessene Versetzungen vor. Bischof Klaus Hemmerle (1975 bis 1994) genieße im Bistum Aachen den Ruf eines charismatischen Seelsorgers und Theologen, sagt Wastl. Er sei aber von allen befragten Zeitzeugen als entscheidungsschwach gerade in Verwaltungsangelegenheiten charakterisiert worden. Ihm habe mit Karlheinz Collas ein „durchsetzungs- und entscheidungsstarker Generalvikar“gegenübergestanden, der sich weitgehend um Missbrauchsfälle gekümmert habe. Hemmerles Entscheidungen zumindest in zwei Fällen nennt das Gutachten„inadäquat und nicht mehr vertretbar“.
Hemmerle habe aber Mitte der 90er-Jahre engen Kontakt zu Opfern aufgenommen, ihnen Hilfe angeboten. Er sei deshalb „bistumsintern kritisiert“worden, was aus Gutachtersicht zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt noch eine offenkundig dominante Strömung in der Bistumsverwaltung existierte, die das Leid der Opfer nicht zur Kenntnis nahm. Generalvikar Collas (1978 bis 1997) wird vorgeworfen, er habe durch unangemessene Versetzungen wiederholt „das Risiko weiterer Opfer in Kauf genommen“. Bischof Heinrich Mussinghoff (1995 bis 2015) wird in dem Gutachten vorgeworfen, dass er primär sein Verhalten im Zusammenhang mit Fällen sexuellen Missbrauchs am Täterschutz ausgerichtet hat. Auch Manfred von Holtum (1997 bis 2015) wird in dem Gutachten vorgeworfen, „einseitig am Täterschutz“orientiert gewesen zu sein.
Die Untätigkeit der Verantwortungsträger im Bistum lässt sich nach Einschätzung von Pusch mit Unwissen nicht entschuldigen. Er sieht den Grund dafür in einem starken Zusammenhalt innerhalb der Priesterschaft. Verbunden mit „pessimistischer Sicht auf Sexualität“ergebe sich eine „paranoide Angst der Kirche vor einem Skandal“. Welche Konsequenzen sie nach ihrem Befund empfehlen, erläutern die Gutachter deutlich: Die katholische Kirche müsse ihren „verfehlten Schutzmechanismus“ändern und sich konsequent Opfern zuwenden. Das kirchliche Sexualstrafrecht und Strafverfahrensrecht müssten reformiert werden. Außerdem müsse die katholische Kirche ihr „negatives Bild von Sexualität“aufgeben. Besonders betonen die Gutachter, dass Frauen in Leitungsämtern eine größere Rolle spielen müssen.