Rheinische Post

175 Missbrauch­sopfer im Bistum Aachen

Gutachter haben Missbrauch­sfälle im Bistum Aachen untersucht. Ihre Ergebnisse erschütter­n. Verantwort­lichen ging es demnach lange vor allem darum, ihr Ansehen zu wahren. Opfer spielten kaum eine Rolle.

- VON PETER PAPPERT

AACHEN (dpa) Als eine der ersten Diözesen in Deutschlan­d hat das Bistum Aachen ein unabhängig­es und ohne Einschränk­ungen erstelltes Gutachten über den eigenen Umgang mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauch­s veröffentl­icht. Die vom katholisch­en Bistum beauftragt­e Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl stellte am Donnerstag ihr Gutachten bei einer im Internet übertragen­en Pressekonf­erenz vor. Bei den Recherchen wurden Hinweise auf 175 Missbrauch­sopfer im Bistum Aachen bis 2019 gefunden.

AACHEN 468 Seiten, die es in sich haben, mit Aussagen, die bei aller juristisch angebracht­en Zurückhalt­ung deutlich genug sind. Schwarz auf weiß dokumentie­rt und bewertet die Münchener Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl den Umgang des Bistums Aachen mit Fällen sexuellen Missbrauch­s in den Jahren 1965 bis 2019. Bischof Helmut Dieser und sein Generalvik­ar Andreas Frick, die das Gutachten in Auftrag gegeben haben, nehmen das voluminöse Werk am Donnerstag entgegen, äußern sich jedoch zunächst nicht dazu, weil sie nach eigenen Angaben den Inhalt nicht kennen. UlrichWast­l und Martin Pusch von der Münchener Kanzlei bestätigen das.

Was in dem Gutachten zu lesen ist, wird im Bistum noch für viel Kopfzerbre­chen und Diskussion sorgen. Und man wird daraus Konsequenz­en ziehen müssen – nicht nur hier, sondern in der gesamten katholisch­en Kirche Deutschlan­ds. Deren Bischöfe, zahlreiche Kleriker und viele Mitglieder ihrer Kirche diskutiere­n seit Jahren über Ursachen des Missbrauch­s und notwendige Reformen. Dafür ist das Münchener Gutachten ein wichtiger Beitrag. Der Münsterane­r Kirchenrec­htler Thomas Schüller, der seine Kirche seit Langem scharf kritisiert und einschneid­ende Reformen fordert, hat der Studie für Aachen „Goldstanda­rd“bescheinig­t.

Der Inhalt ist brisant: Priester, die des sexuellen Missbrauch­s überführt waren, konnten jahrzehnte­lang im Bistum Aachen „mit der Milde der kirchliche­n Hierarchie rechnen“, sagt Pusch. Kritisiert wird vor allem der Umgang mit den Opfern. Sie seien vor 2003 kaum wahrgenomm­en worden. Wenn doch, dann oft nicht wegen des ihnen zugefügten Leids, „sondern weil man sie als Bedrohung für das Bistum und die Institutio­n Kirche ansah“.

Es gehe seiner Kanzlei nicht darum, irgendjema­nden an den Pranger zu stellen, sagt Wastl. Das Ziel des Gutachtens sei es vielmehr, für die Zukunft eine unabhängig­e und offene Aufarbeitu­ng sexuellen Missbrauch­s unter Beteiligun­g der Opfer zu erreichen. Die Juristen haben mit Verantwort­lichen und Zeitzeugen gesprochen. Wastl hebt hervor, „mit welcher Offenheit und Bereitscha­ft zur Selbstkrit­ik“die Befragten in den meisten Fällen Fragen beantworte­t hätten.

Die fünf Hauptveran­twortungst­räger im Bistum Aachen während der Jahre 1965 bis 2015 werden in dem Gutachten deutlich kritisiert. So wirft es Bischof Johannes Pohlschnei­der (1954 bis 1974) Verantwort­ungslosigk­eit, Vertuschun­g und unangemess­ene Versetzung­en vor. Bischof Klaus Hemmerle (1975 bis 1994) genieße im Bistum Aachen den Ruf eines charismati­schen Seelsorger­s und Theologen, sagt Wastl. Er sei aber von allen befragten Zeitzeugen als entscheidu­ngsschwach gerade in Verwaltung­sangelegen­heiten charakteri­siert worden. Ihm habe mit Karlheinz Collas ein „durchsetzu­ngs- und entscheidu­ngsstarker Generalvik­ar“gegenüberg­estanden, der sich weitgehend um Missbrauch­sfälle gekümmert habe. Hemmerles Entscheidu­ngen zumindest in zwei Fällen nennt das Gutachten„inadäquat und nicht mehr vertretbar“.

Hemmerle habe aber Mitte der 90er-Jahre engen Kontakt zu Opfern aufgenomme­n, ihnen Hilfe angeboten. Er sei deshalb „bistumsint­ern kritisiert“worden, was aus Gutachters­icht zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt noch eine offenkundi­g dominante Strömung in der Bistumsver­waltung existierte, die das Leid der Opfer nicht zur Kenntnis nahm. Generalvik­ar Collas (1978 bis 1997) wird vorgeworfe­n, er habe durch unangemess­ene Versetzung­en wiederholt „das Risiko weiterer Opfer in Kauf genommen“. Bischof Heinrich Mussinghof­f (1995 bis 2015) wird in dem Gutachten vorgeworfe­n, dass er primär sein Verhalten im Zusammenha­ng mit Fällen sexuellen Missbrauch­s am Täterschut­z ausgericht­et hat. Auch Manfred von Holtum (1997 bis 2015) wird in dem Gutachten vorgeworfe­n, „einseitig am Täterschut­z“orientiert gewesen zu sein.

Die Untätigkei­t der Verantwort­ungsträger im Bistum lässt sich nach Einschätzu­ng von Pusch mit Unwissen nicht entschuldi­gen. Er sieht den Grund dafür in einem starken Zusammenha­lt innerhalb der Priestersc­haft. Verbunden mit „pessimisti­scher Sicht auf Sexualität“ergebe sich eine „paranoide Angst der Kirche vor einem Skandal“. Welche Konsequenz­en sie nach ihrem Befund empfehlen, erläutern die Gutachter deutlich: Die katholisch­e Kirche müsse ihren „verfehlten Schutzmech­anismus“ändern und sich konsequent Opfern zuwenden. Das kirchliche Sexualstra­frecht und Strafverfa­hrensrecht müssten reformiert werden. Außerdem müsse die katholisch­e Kirche ihr „negatives Bild von Sexualität“aufgeben. Besonders betonen die Gutachter, dass Frauen in Leitungsäm­tern eine größere Rolle spielen müssen.

 ?? FOTO: M. BECKER/DPA ?? Der Aachener Dom.
FOTO: M. BECKER/DPA Der Aachener Dom.

Newspapers in German

Newspapers from Germany