Paris wartet auf den Lockdown
Die Infektionszahlen in Frankreich steigen seit Tagen stark. In der Hauptstadt nimmt die Lage bedrohliche Ausmaße an. Derweil wurde in der Bretagne eine neue Virus-Mutation entdeckt.
PARIS Über Paris schwebt ein Damoklesschwert. Die Frage ist allerdings nicht, ob über die französische Hauptstadt ein Corona-Lockdown verhängt wird, sondern wann das der Fall sein wird. Die Zahl der Neuinfektionen nimmt seit Tagen bedrohliche Ausmaße an. Die Sieben-Tage-Inzidenz im Stadtzentrum liegt inzwischen bei rund 400; dieser Wert wird in den Vororten allerdings noch deutlich überschritten und nähert sich dort der 500er-Marke. Die Kliniken in Paris arbeiten längst an der Belastungsgrenze, dringende Operationen sind verschoben, und Intensivpatienten werden mit Hubschraubern und umgebauten Hochgeschwindigkeitszügen in andere Landesteile verlegt. „Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen“, sagte Frédéric Adnet, Medizinischer Direktor des Rettungsdienstes im Département Seine-Saint-Denis nördlich von Paris. Frankreich ist mit weit über 90.000 Todesfällen eines der von der Pandemie am meisten betroffenen Länder Europas.
Die Realität auf den Straßen der Millionenmetropole spiegelt diese Situation allerdings nur sehr bedingt wider, was offensichtlich zur rasanten Ausbreitung des Virus beiträgt. Zwar sind die ganz großen Konsumtempel, Theater, Kinos und alle Restaurants seit Monaten geschlossen, dennoch drängeln sich viele Menschen beim Einkaufen durch die Straßen. An den sonnigen Tagen strömen die Massen in die Parks oder an die Uferpromenaden der Seine – müde von den seit einem Jahr geltenden Corona-Beschränkungen. Die Abstandsregeln werden oft nicht mehr eingehalten. Zudem sind alle Schulen und Kindertagesstätten geöffnet, was in Frankreich kaum infrage gestellt wird. Auch in der meist überfüllten Métro sind die Abstandsregeln nicht einzuhalten, vor allem kurz vor 18 Uhr, wenn die Ausgangssperre beginnt und jeder schnell nach Hause möchte.
Inzwischen läuft auch die von Frankreich in den großen Städten schon seit Monaten angewandte Strategie des massiven Testens ins Leere. In Paris kann sich jeder Einwohner in den Apotheken gratis auf das Virus testen lassen. Doch angesichts der aktuellen Infektionsraten können die betroffenen Cluster nicht mehr nachvollzogen werden. In anderen schwer betroffenen Regionen des Landes wurden angesichts der rasanten Ausbreitung des Coronavirus verschärfte Ausgangssperren verhängt. So dürfen etwa in Nizza oder Dünkirchen die Menschen an denWochenenden nur für eine Stunde das Haus zum Einkaufen verlassen.
Präsident Emmanuel Macron hat sich allerdings gegen den Rat aller Fachleute dagegen entschieden, sich für noch schärfere Maßnahmen auszusprechen und etwa die Ausgangssperren auf die ganze Woche auszudehnen. Er scheint überzeugt, dass dies den Franzosen nicht mehr zuzumuten wäre, weshalb das Staatsoberhaupt seine Strategie im Kampf gegen dasVirus grundlegend geändert hat. Wurde vor einem Jahr über das gesamte Land für rund zwei Monate ein rigider Lockdown verhängt, sollen nun lokale und regionale Einschränkungen genügen. „Wir werden auf dasVirus reagieren, Stadt für Stadt, Region für Region“, sagte er bei einem Besuch in der südfranzösischen Stadt Montauban.
Macron setzt nun seine große Hoffnung darauf, dass die Impfungen schnell vorangehen. Die liefen in Frankreich bisher wesentlich chaotischer und langsamer ab als in den meisten anderen europäischen Staaten. Daher wurde nun erlaubt, nicht nur bei Hausärzten, sondern auch in Apotheken zu impfen. Allerdings kämpft auch Frankreich mit einem eklatanten Mangel an Impfstoff. Und jetzt stellt sich ein neues Problem: Die Astrazeneca-Impfungen wurden im ganzen Land vorübergehend ausgesetzt.
Frankreichs Impfbeauftragter Alain Fischer versuchte am Dienstag zu beschwichtigen. „Die Impfung schreitet voran. Die Impfung ist da und wird weitergehen“, sagte Fischer dem Radiosender France Inter. Der Mediziner geht davon aus, dass der Stopp der Impfungen nur vorübergehend ist. Die Zahl der unerwünschten Nebenwirkungen sei gering, erklärte Fischer. Das entscheidende Element bei der Analyse sei das Abwägen von Nutzen und Risiko.
Zu allem Übel machten am Dienstag Meldungen die Runde, dass in der Bretagne von Ärzten eine neue Virus-Mutation entdeckt worden sei. Das Problem: dieses neue Virus sei offensichtlich nicht mit den üblichen PCR-Tests nachzuweisen. Gezählt wurden bisher acht Fälle in einem Krankenhaus in Lannion, einer kleinen Stadt im Département Côtes-d'Armor. Überrascht sind die Fachleute deshalb, weil diese Region mit einer Inzidenz von rund 130 deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von knapp 250 liegt. Das französische Gesundheitsministerium warnt vor schnellen Schlüssen. Erste Analysen würden nichts über die Gefährlichkeit des neuenVirustyps aussagen, heißt es. Die Untersuchungen liefen auf Hochtouren, um herauszufinden, wie diese „bretonische Variante“auf die Impfstoffe reagiere.