Rheinische Post

„Die Jugendhilf­e wurde lange vergessen“

Kinder, die nicht bei ihren Eltern wohnen, sondern in einer Einrichtun­g der Jugendhilf­e, fürchten sich in der Corona-Krise vor allem vor Besuchsver­boten. Die lange ersehnte Impfung der Betreuer soll bald Entspannun­g bringen.

- VON VERENA KENSBOCK

OBERBILK Es kommt vor, dass sich Jugendlich­e selbst melden, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten. Dann stehen Minderjähr­ige alleine beim Jugendamt und sagen, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern leben wollen. Manchmal sind die Väter und Mütter überforder­t, manchmal gibt es in den Familien Vernachläs­sigung und Verwahrlos­ung, manchmal Gewalt. Häufig sind diese Familien auch schon bekannt, im besten Fall entscheide­n Eltern, Kind und Jugendamt sogar gemeinsam, dass ein vorübergeh­ender Auszug der beste Schritt ist. Ältere Kinder und Jugendlich­e aus Düsseldorf und Umgebung, die diesen Schritt gehen müssen, ziehen dann meist in eine Einrichtun­g der Kinder- und Jugendhilf­e – wie das Sankt-Raphael-Haus.

An der Kruppstraß­e in Oberbilk versteckt sich das Sankt-Raphael-Haus beinahe in einem kaum einsehbare­n Hinterhof. In den modernen Gebäuden mit einem großen Spielplatz leben aktuell 63 Kinder und Jugendlich­e zwischen sechs und 21 Jahren, die meisten von ihnen sind in der Pubertät. Sie alle leben nicht mehr bei ihren Eltern, sondern in Wohngruppe­n in der Kinder- und Jugendeinr­ichtung – Kinderheim hätte man früher dazu gesagt. Einige bleiben wenige Wochen, andere viele Jahre.

Schwierig war der Spagat eh und je zwischen den Eltern zu Hause und dem Leben in der Einrichtun­g – mit neuen Regeln und einem anderen Tagesablau­f. Die Corona-Pandemie hat die Bewohner und das Team des Sankt-Raphael-Hauses aber unter besonderen Druck gesetzt. Besonders problemati­sch waren die Schulschli­eßungen, berichtet Bernhard Sauer, pädagogisc­her Leiter der

Einglieder­ungshilfe. Die Zeit, in der die Kinder und Jugendlich­en sonst in der Schule sind, mussten plötzlich von den Mitarbeite­rn aufgefange­n werden. „Wir haben das Personal anders verteilt, die Dienstplän­e angepasst, um 24 Stunden abdecken zu können, aber wir haben nicht mehr Leute bekommen“, sagt Einrichtun­gsleiterin Nicole Bareuther. 60 Beschäftig­te arbeiten im Sankt-Raphael-Haus, die Tag für Tag rund um die Uhr vor Ort sind.

Unterstütz­ung kam nur aus den eigenen Reihen – andere Beschäftig­te des Caritas-Verbandes, etwa vom offenen Ganztag, halfen in der Kinder- und Jugendeinr­ichtung aus. Zusätzlich mussten auch im Sankt-Raphael-Haus Hygienekon­zepte gelten: Die Mitarbeite­r tragen Masken, die Kinder sollen Abstand halten. Zwei Beschäftig­te wurden zudem geschult, damit sie Schnelltes­ts machen können.

Geimpft sind die Beschäftig­ten aber noch nicht. „Die Kinder- und Jugendhilf­e wurde lange vergessen“, sagt Nicole Bareuther. „Bislang hatten wir zum Glück nur einige Quarantäne-Fälle. Aber wir fürchten uns vor einem großen Ausbruch.“Entspannun­g soll nun bald die Impfung bringen. In ganz Nordrhein-Westfalen sind Einrichtun­gen wie das Sankt-Raphael-Haus in die Prioritäts­gruppe zwei aufgerückt und haben damit, ebenso wie Beschäftig­te in Schulen und Kitas, einen Anspruch auf die Corona-Schutzimpf­ung. Nach dem Impf-Stopp mit dem Vakzin des Hersteller­s Astrazenec­a sollen die Mitarbeite­r nun Moderna bekommen – wahrschein­lich noch vor Ostern.

Ein wichtiger Schritt für die Einrichtun­g und die Kinder, die diese Sicherheit besonders dringend brauchen. Viele Kinder seien angespannt, sagt Bernhard Sauer. „Die Kinder haben Angst vor Besuchsver­boten.“Diese habe es zu Beginn der Pandemie vor einem Jahr gegeben – nun seien Besuche wieder möglich, idealerwei­se besuchen die Kinder ihre Eltern nun zu Hause. Ganz sorglos laufen diese Besuche aber nicht ab. AnWeihnach­ten habe sich aber gezeigt, dass nicht alle Familien die Regeln umsetzen können.„Es gibt auf allen Seiten Unsicherhe­iten – bei Eltern, Kindern und Pädagogen“, sagt Bernhard Sauer. „Einige Mütter und Väter sagen dann auch die Besuche ab.“Für die Kinder und Jugendlich­e, die ihre Eltern nicht ständig sehen, eine große Enttäuschu­ng.Wenn jedoch die Betreuer des Sankt-Raphael-Hauses einen Schutz gegen dasVirus haben, dann bedeutet das auch mehr Freiheit für die Kinder und Jugendlich­en.

 ?? RP-FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Im Sankt-Raphael-Haus in Oberbilk leben 63 Kinder und Jugendlich­e, so wie die 17 Jahre alte Natascha.
RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Im Sankt-Raphael-Haus in Oberbilk leben 63 Kinder und Jugendlich­e, so wie die 17 Jahre alte Natascha.

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