Ein Relikt aus dunklen Zeiten
Betretungs- und Ausgehverbote sind in demokratischen Staaten nur in Ausnahmefällen erlaubt. Diktaturen nutzen dieses Mittel, um unliebsame Gruppen oder die eigene Bevölkerung zu unterdrücken.
Bis 1968 hatte die Bundesrepublik noch nicht einmal eine Notstandsgesetzgebung
Im demokratischen Deutschland ist die Ausgangssperre lange Zeit aus der Mode gekommen. Die Mehrzahl der Deutschen kann sich jedenfalls nicht erinnern, jemals vor der Corona-Pandemie auf Befehl der Regierung in den eigenen vierWänden eingeschlossen gewesen zu sein – von lokalen Unglücken oder chemischen Unfällen einmal abgesehen. In der Brockhaus-Enzyklopädie von 1987 (19. Auflage) kommt der Begriff „Ausgangssperre“daher ebenso wenig vor wie in der aktuellen Online-Ausgabe.
Tatsächlich gab es vergleichbare flächendeckende Betretungsund Ausgehverbote wie jetzt in der Corona-Krise in Deutschland zuletzt nur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Bewusst daran erinnern können sich nur Menschen, die deutlich älter als 80 Jahre sind. Sie wissen noch, dass die Straßen menschenleer waren, als die Alliierten einmarschierten.„Über die Städte war die Ausgangssperre verhängt. Für einige Augenblicke erstarrte alles“, schrieb der nachgeborene, inzwischen verstorbene FAZ-Kulturchef Frank Schirrmacher 1995, also 50 Jahre nach Kriegsende. Auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss vermerkte für Mai 1945 in seinen Tagebüchern, dass das strikte Ausgangsverbot befolgt werden musste, das die örtlichen Kommandanten – von 17 bis 7 Uhr, sonntags von 17.30 bis 6 Uhr – verfügt hatten.
Danach wurde die Ausgangssperre ein Fremdwort. Bis 1968 hatte die Bundesrepublik noch nicht einmal eine Notstandsgesetzgebung. Und selbst bei Katastrophen und Anschlägen wurden staatliche Zwangsmaßnahmen nur ganz dosiert eingesetzt. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, der Mutter aller Ausnahmezustände in Europa, wurden als einschneidendste Maßnahmen einige Kinderspielplätze gesperrt und Pilze vom Markt genommen. In der Finanzkrise reichte eine mündliche Garantie der Spareinlagen durch Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren Finanzminister Peer Steinbrück, um einen Run auf die Banken zu verhindern.
Dabei waren die Deutschen zuvor Weltmeister im Verhängen von Ausgangssperren. Die Nationalsozialisten folgten gern dem Motto ihres geistigen Lehrers, des umstrittenen Staatsrechtlers Carl Schmitt, der schon 1922 in seiner „Politischen Theologie“schrieb: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten.“Die Nazis zeigten ihre Macht – im Inneren wie in den besetzten Gebieten. Gerade in letzteren beschränkten sie die Bewegungsfreiheit so stark, dass sie freie Bahn für ihre Menschheitsverbrechen hatten. „Die Ausgangssperren der Nazis richteten sich vor allem gegen bestimmte Gruppen, um gegen diese, namentlich die Juden, mit brachialer Gewalt vorzugehen“, meint der Historiker Christoph Cornelißen, der an der Universität Frankfurt den Lehrstuhl für Neueste Geschichte leitet. Die Gettoisierung der Juden in vielen Städten gehört dahin. Denn dort galten strikte Ausgehverbote, um leichter kontrollieren zu können. Allerdings waren die Ausgangssperren nur eine von etwa 2000 Sonderbestimmungen.
Dem Autor unvergessen bleibt eine Geschichte seines Großvaters, der als Major der Wehrmacht im besetzten Reims in Frankreich die Ausgangssperre überwachen musste. Dabei griffen einmal seine Soldaten nachts einen Priester auf, der ohne Genehmigung unterwegs war. Dem Gottesmann drohte eine empfindliche Haftstrafe, die ihm der Großvater, ein gläubiger Katholik, aber zum Verdruss der Truppe erließ. Eine durchaus glaubwürdige Geschichte, findet der Historiker Cornelißen. „In den besetzten Gebieten vor allem im Westen gab es zu Beginn flächendeckend Ausgangssperren, die aber später nicht immer ganz streng geahndet wurden.“Man wollte nicht unnötig Unmut in der Bevölkerung schüren.
Ausgangssperren sind auch immer ein militärisches Mittel, um Kontrolle auszuüben. In den Ostblock-Staaten wurden sie häufig eingesetzt, etwa 1953 in der DDR nach dem Aufstand des 17. Juni, aber auch 1956 in Polen und Ungarn und später 1968 in der Tschechoslowakei. Als GeneralWojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 nach einer Streikwelle der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc in Polen das Kriegsrecht ausrief, verhängte er zugleich eine Ausgangssperre über das ganze Land.
In demokratischen Ländern sind Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gewöhnlich nur in Katastrophenfällen oder bei Angriffen von außen möglich. Anders in den USA, in denen die Staatsorgane auch bei Unruhen der schwarzen Bevölkerung oft auf Ausgangssperren setzten. In Minneapolis dauerte es am 29. Mai 2020 nach der Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten nur 30 Minuten, bevor die Stadt ein Betretungsverbot ihrer Straßen erließ. Die Schnelligkeit diente dazu, die Protestbewegung zu ersticken und Demonstranten gleich verhaften zu können. Ex-US-Präsident Donald Trump wollte Plünderer bei solchen Unruhen erschießen lassen, auch die demokratische Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, drohte mit dem Einsatz von Schusswaffen, sollten Menschen sich nach der Hurrikan-Katastrophe „Katrina“an fremdem Eigentum vergehen.
Von solchen Exzessen sind die Sanktionen bei Ausgangssperren in Deutschland weit entfernt. Gewöhnlich belässt es die Polizei bei Ermahnungen, in NRW verhängt sie derzeit ein Bußgeld von 250 Euro. DochVorsicht:Wer vorsätzlich gegen die einschlägigen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes handelt, kann im Extremfall mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden.