Schlag auf Schlag
US-Präsident Joe Biden ist seit 100 Tagen im Amt. Er kündigte ein milliardenschweres Stärkungspaket für die Mittelschicht an.
WASHINGTON Nur einmal, kurz, aber prägnant, erinnert Joe Biden an diesem Abend an Franklin Delano Roosevelt, auf dessen Spuren er wandelt. Es war FDR, Präsident von 1933 bis 1945, der eine Tradition begründete, nach der sich amerikanische Präsidenten bereits nach 100 Tagen im Amt ein erstes Zeugnis ausstellen lassen müssen. Es war FDR, der mit einer Serie ehrgeiziger Staatsprogramme entscheidend dazu beitrug, die Große Depression zu überwinden. Am Mittwochabend dient er Biden, der seine eigene Rolle zu definieren versucht, als historisches Vorbild, um so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu beschwören. „In einer anderen Ära, als unsere Demokratie schon einmal getestet wurde, hat uns Roosevelt daran erinnert: In Amerika tragen wir alle unseren Teil bei.“
Es ist Bidens erster Auftritt vor beiden Kammern des Kongresses, in einem Ambiente, in dem er sich nach 36 Jahren im Senat zu Hause fühlt wie kaum jemand sonst. Er nutzt die Gelegenheit, um markanter als bei seiner Vereidigung darzulegen, wie er seinen Job begreift. Der Mann, der sich schon früher als „Middle-Class Joe“inszenierte, will die zuletzt arg gebeutelten Mittelschichten stärken. Durch Umverteilung, Subventionen und Investitionen will er verhindern, dass sich Abstiegsängste bewahrheiten. Ein aktiv handelnder Staat soll im Wettlauf mit dem autokratisch regierten China unter Beweis stellen, dass die Demokratie funktioniert und wettbewerbsfähig ist, dass sie „liefert für unsere Leute“. „Die Wall Street hat dieses Land nicht aufgebaut. Die Mittelschicht hat dieses Land aufgebaut“, sagt Biden. Es sind die Kernsätze seiner Rede. Es ist der Leitfaden seiner Regierungsphilosophie.
In Autokratien, sagt Biden, sehe man in den Bildern des Mobs, der am 6. Januar das Kapitol stürmte, den Beweis dafür, dass die Sonne über der amerikanischen Demokratie untergehe. Die USA, glaube man, seien zu sehr durch Wut und Spaltung geprägt, als dass sie noch handlungsfähig seien.„Damit liegen sie falsch. Ihr wisst es. Ich weiß es. Aber wir müssen beweisen, dass sie falsch liegen.“Dann folgt der optimistische Teil. Er habe, blendet Biden zurück, eine Nation tief in der Krise übernommen.„Die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert. Die schlimmste Rezession seit der Großen Depression. Der schlimmste Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg.“Jetzt aber sei das Land in Bewegung, es sei bereit zum Abheben. Das Impfprogramm – die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ist mittlerweile mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft – zähle zu den größten logistischen Leistungen, die man je vollbracht habe. Joe Biden, der Cheerleader.
Dann ist da noch der Veteran der Politik, der alle verblüfft, weil er ein Tempo geht, das ihm kaum einer zugetraut hatte. Als habe er, 78 Jahre alt, keine Minute zu verlieren. Als Mann der Empathie und des Kompromisses gewählt, strebt Biden mit überraschender Konsequenz weitreichende Reformen an. Nachdem er im März ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket durchs Parlament brachte, wirbt er für ein 2,3-Billionen-Dollar-Paket zur umweltgerechten Modernisierung der Infrastruktur und skizziert erstmals ein drittes, kaum weniger ambitioniertes Programm namens „American Families Plan“(siehe Infokasten). Unter anderem will Biden zwölf Wochen bezahlten
Urlaub nach der Geburt eines Babys durchsetzen. Drei- und Vierjährige sollen mithilfe kostenloser Vorschulprogramme auf das Lernen im Klassenzimmer vorbereitet werden, während High-School-Absolventen, wenn sie mögen, ein Community College besuchen können, wofür sie keinen Cent an Gebühren zu zahlen haben. Community Colleges sind Hochschulen, an denen das Studium nur zwei Jahre dauert. Mit seiner Offerte geht Biden einen halben Schritt auf den linken Flügel der Demokraten zu, der generell gebührenfreie Universitäten fordert.
Finanziert werden soll der Plan, indem die unter Donald Trump beschlossenen Steuersenkungen, von Ausnahmen abgesehen, rückgängig gemacht werden und hier und da noch draufgesattelt wird. Kernstück ist der Vorschlag, Kapitalerträge von Einkommensmillionären genauso hoch zu besteuern wie Löhne, wobei der Spitzensatz künftig bei 39,6 Prozent liegen soll.
Der Präsident habe versprochen, das Land zu einen, nun spalte er es nur noch mehr, kritisiert der konservative Senator Tim Scott, ein Afroamerikaner aus South Carolina, der im Namen seiner Partei eine kurze Erwiderungsrede hält. Mitt Romney, einer der wenigen Republikaner, die Trump die Stirn boten, spricht von einem Präsidenten, der wie ein Verrückter Geld ausgebe. Biden dagegen appelliert an das Gerechtigkeitsgefühl. Es sei höchste Zeit, dass Unternehmen und die wohlhabendsten Amerikaner einen angemessenen Teil der Steuerlast tragen. Bestrafen wolle er keinen, er habe nichts gegen Milliardäre, nur dies: „Zahlen Sie einfach einen fairen Anteil.“