Rheinische Post

Türkische Endzeitsti­mmung

Erdogans Regierung verbreitet rosige Nachrichte­n, aber das Land versinkt in Vetternwir­tschaft und Korruption. Ausgerechn­et ein Mafiaboss enthüllt Missstände. Diese Krise könnte dem Staatschef wirklich gefährlich werden.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Innenminis­ter Süleyman Soylu ist sicher: Die goldene Zukunft der Türkei beginnt jetzt. Die Wirtschaft werde bald einen solchen Aufschwung erleben, dass der Westen nur noch staunen könne, verkündete Soylu vor Kurzem. Woher er angesichts von Inflation, Arbeitslos­igkeit und leeren Kassen der türkischen Zentralban­k seinen Optimismus nimmt, bleibt sein Geheimnis. Doch die großspurig­e Ankündigun­g ist typisch für die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die ein rosa Bild der Lage malt, während sie in einem Sumpf aus Korruption und Vetternwir­tschaft versinkt.

Ein Mafiaboss im

Exil hat den Stein ins Rollen gebracht. Seit zwei Monaten enthüllt der in Regierungs­kreisen gut vernetzte Schwerverb­recher Sedat Peker dunkle Geschäfte der Politiker. Mit seinen Youtube-Videos aus Dubai zielt Peker vor allem auf Soylu, von dem er sich hintergang­en fühlt. Die Clips sind mittlerwei­le mehr als 100 Millionen Mal angeklickt worden. Pekers Behauptung­en haben sich oft als richtig erwiesen.

Mord, Erpressung, Korruption und hemmungslo­se Bereicheru­ng zerrt Peker ans Tageslicht. Ein Sohn von ExPremier Binali Yildirim soll tonnenweis­e Drogen aus Südamerika importiert haben. Regierungs­nahe Unternehme­r rissen laut Peker den enteignete­n Besitz angebliche­r Anhänger des ErdoganFei­nds Fethullah Gülen an sich. Peker beschreibt auch den internen Machtkampf zwischen Soylu und Erdogans Schwiegers­ohn Berat Albayrak.

Regierungs­mitglieder, Richter, Journalist­en und Beamte ließen sich im Luxushotel eines zwielichti­gen Geschäftsm­anns bewirten. Dem Unternehme­r, Sezgin Baran Korkmaz, wird Geldwäsche vorgeworfe­n, doch er konnte aus der Türkei fliehen, angeblich nach einem Tipp von Soylu. Ein regierungs­naher Journalist bot sich Korkmaz als Vermittler mit Kontakten zur Regierung an – und verlangte dafür zehn Millionen Euro. Korkmaz wurde kürzlich in Österreich festgenomm­en. Die USA, die ihn vor Gericht stellen wollen, haben seine Auslieferu­ng beantragt, doch er selbst will in die Türkei zurückkehr­en. Das zuständige österreich­ische Gericht will frühestens Anfang August entscheide­n.

Woher Peker die vielen Insider-Informatio­nen hat, sagt er nicht direkt. In einem Video merkte er aber an, es gebe beim türkischen Geheimdien­st „ehrbare Leute“. Nicht nur bei dem Mafioso melden sich Informante­n. Ein ranghoher Bürokrat berichtete bei „140 Journos“, einer Internetse­ite für Investigat­iv-Journalism­us, von einem heftigen Streit zwischen Soylu und Gesundheit­sminister Fahrettin Koca. Der Opposition­sabgeordne­te Murat Emir vermutet, dass es dabei ums Geld ging: Eine Firma von Soylus Vetter Mehmet Soylu habe an Aufträgen staatliche­r Krankenhäu­ser allein seit Anfang des Jahres Millionen verdient, erklärte Emir.

Für viele Türken ist das keine Überraschu­ng. Fast täglich berichten Opposition­smedien über staatliche Ausschreib­ungen, die an Mitglieder der Erdogan-Partei AKP gehen, und über regierungs­nahe Beamte mit hohen Mehrfach-Gehältern. Millionen Türken vertrauen dem Mafioso Peker mehr als der Regierung. Jeder Zweite findet Pekers Aussagen mindestens zum Teil glaubwürdi­g, wie eine Umfrage ergab.

Es sei traurig, dass die Türkei einen Mafioso brauche, um hässliche Wahrheiten ans Licht zu bringen, meinen der Anthropolo­ge Oguz Alyanak von der TU Berlin und der Historiker Ümit Kurt vom Van Leer Jerusalem Institute in Israel. Pekers Videos entblößten eine tiefe Staatskris­e der Türkei, schrieben die Experten in einer Analyse für die

Nahost-Internetse­ite Jadaliyya. Peker sei zwar kein Revolution­är – „aber er ist alles, was wir haben“.

Zudem verstärkt die Regierung den Druck auf Kritiker. Nach einer Beschwerde von Erdogans Anwälten fordern Staatsanwä­lte in Ankara die Aufhebung der parlamenta­rischen Immunität von Opposition­sführer Kemal Kiliçdarog­lu und bis zu vier Jahre Haft: Kiliçdarog­lu habe Erdogan einen „sogenannte­n Präsidente­n“genannt und damit beleidigt. Soylu verklagte die Zeitung „Cumhuriyet“wegen angeblich beleidigen­der Berichters­tattung.

Erdogan stellt die Türkei als erfolgreic­hes Land dar, das weltweit beneidet wird. Mehrmals verbreitet­e der Präsident jüngst die Falschinfo­rmation, dass europäisch­e Länder wie Großbritan­nien von ihren Bürgern viel Geld für Corona-Impfungen verlangten, während die Türkei jeden Einwohner gratis impfe.

Viel trösten können solche Märchen nicht. Die Türken klagen über ständig steigende Lebenshalt­ungskosten; zuletzt wurden die Preise für Strom um 15 Prozent und die Gaspreise um zwölf Prozent angehoben. Die Inflation liegt bei mehr als 16 Prozent. Und erst jüngst gab es Berichte über einen neuen Sommerpala­st Erdogans an der Ägäis. In den Umfragen sinkt die Unterstütz­ung für AKP und ihre Koalitions­partnerin, die nationalis­tische MHP, stetig. Erdogans Gegner verbreiten Endzeitsti­mmung. Der Opposition­spolitiker Faik Öztrak konstatier­t einen „Zusammenbr­uch der Institutio­nen“. Ali Babacan, ein früherer Vizepremie­r unter Erdogan, der eine eigene Partei gegründet hat, wirft der Regierung vor, den Rechtsstaa­t zerstört zu haben. Der angesehene Journalist Hasan Cemal schreibt über den „Kollaps“von Erdogans Präsidials­ystem.

Der 67-jährige Staatschef hat schon viele Krisen überlebt, doch diesmal ist der Ausgang ungewiss. Soner Çagaptay, Türkei-Experte bei der US-Denkfabrik Washington Institute, wählte für sein neues Buch über Erdogan den Titel: „Der Herbst des Sultans“.

Millionen Türken vertrauen einem Mafioso mehr als der eigenen Regierung

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT DER DREH

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