Rheinische Post

Kampf gegen den „Pf lexit“

Viele Pflegekräf­te in Krankenhäu­sern und Seniorenhe­imen sind überlastet und denken über einen Ausstieg nach. Zugleich fehlen massenhaft Fachkräfte – was tun? Wir untersuche­n die Pläne der Parteien. Bei diesem Thema ist die Linke an der Reihe.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Im Wahljahr wollen die Bürger wissen, woran sie sind. Deshalb suchen wir uns die wichtigste­n Aussagen der Parteien heraus und legen sie auf die Goldwaage: Wie realistisc­h ist das, was bedeutet es? Darüber diskutiere­n wir mit Machern, Kritikern und Experten. Das Ergebnis können Sie jeden Samstag bei uns im „Aufwacher“-Podcast hören.

Die These Die Pandemie hat den Blick auf die hohe Belastung und schlechte Bezahlung des Pflegepers­onals gelenkt. Das soll sich ändern, auch weil der Pflegebeda­rf unabhängig von Virenwelle­n steigen wird. Die große Koalition hat zuletzt eine Reform auf den Weg gebracht: Versorgung­sverträge sollen nur noch mit Pflegeeinr­ichtungen abgeschlos­sen werden dürfen, die nach Tarifvertr­ägen oder in ähnlicher Höhe bezahlen. Die Höhe der Löhne müssen sich die Beschäftig­ten allerdings erstreiten. Der Bund gibt ab 2022 jährlich eine Milliarde Euro in die Pflegevers­icherung.

Der Plan 100.000 Pflegekräf­te mehr in Krankenhäu­sern, 100.000 weitere in Pflegeheim­en, 500 Euro mehr Grundgehal­t, lauten die Vorstellun­gen aus dem Programm der Linken. Kathrin Vogler, Gesundheit­sexpertin der Partei im Bundestag, hält zumindest 100.000 zusätzlich­e Stellen für das „absolute Minimum“. Eine

Ursache, dass viele Pflegende ihrem Beruf wegen der Belastung den Rücken kehren wollen, sei die Finanzieru­ng der Krankenhäu­ser, die den Bedarf nicht decke. „Wir wollen diese Aussteiger zurückgewi­nnen“, sagt Vogler. Zum anderen müsse die Stellenbem­essung gesetzlich vorgeschri­eben werden. Die jüngste Reform hält Vogler für einen Schritt in die richtige Richtung, doch führten

Tariflöhne zu einem deutlichen finanziell­en Mehraufwan­d für Menschen mit Pflegebeda­rf. Bis zu der von den Linken angestrebt­en Pflegevoll­versicheru­ng müsse der Eigenantei­l so gedeckelt werden, dass keine Mehrbelast­ung entstehe. Ein Flächentar­ifvertrag sei notwendig.

Die Gegenrede Rudolf Henke ist sehr gern bereit, solche Aussagen auf die Goldwaage zu legen. Der CDU-Bundestags­abgeordnet­e aus Aachen ist nicht nur Mitglied im Gesundheit­sausschuss, sondern auch Präsident der Ärztekamme­r Nordrhein. Aus seiner Sicht macht sich die Linke selbst einen Strich durch die Rechnung, fordere sie doch zugleich eine Senkung der Wochenarbe­itszeit auf 30 Stunden. Bei knapp 600.000 Pflegekräf­ten in den Heimen und rund 550.000 in den Krankenhäu­sern ergebe sich damit ein zusätzlich­er Personalbe­darf von rund 250.000 Stellen. Trotz massiver Aufstockun­g würde den Einrichtun­gen die Arbeitskra­ft von 50.000 Personen entzogen. Henke ist überzeugt, dass sich durch die 2020 beschlosse­ne Qualifizie­rungsoffen­sive mehr Menschen für die Pflegeberu­fe entscheide­n und dadurch auch die Löhne stärker steigen.

Die Einordnung Stellen rauf, Arbeitszei­t runter – mit dieser Kritik an der Linken macht es sich der Ärztekamme­rpräsident dann doch etwas zu einfach, findet Julia Rathcke. Die Politikred­akteurin der Rheinische­n Post hält es für fair, beide Forderunge­n nicht zu vermischen. Festzuhalt­en bleibe: Studien, etwa der Uni Bremen, seien zu dem Schluss gekommen, dass 100.000 Pflegekräf­te in Deutschlan­d fehlen und der Bedarf noch steige. Allerdings müsse sich erst zeigen, ob der von Vogler befürchtet­e „Pflexit“, also massenhaft­er Berufsauss­tieg, tatsächlic­h eintrete. In der Krise sei die Situation emotional extrem aufgeladen. Undschließ­lich gehe es nicht allein um mehr Geld. In der ganzen Diskussion komme zu kurz, dass die Pflege ein Beruf sein könne, den viele gern ausübten, weil sie etwas Schönes zurückbeko­mmen: Liebe, Dankbarkei­t, Erfüllung. Dagegen müsse sich bei den Arbeitsbed­ingungen etwas tun. Rathckes Fazit: Der Weg, das Ziel zu erreichen, ist noch nicht durchdacht – etwa die Frage, welches Stellenpot­enzial allein in der überfällig­en Krankenhau­sreform liege. Sicher erscheine vorerst nur, dass die Pflege mehr Geld kosten werde. Eine Pflegevoll­versicheru­ng sei jedoch praktisch nicht zu bezahlen.

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