Kampf gegen den „Pf lexit“
Viele Pflegekräfte in Krankenhäusern und Seniorenheimen sind überlastet und denken über einen Ausstieg nach. Zugleich fehlen massenhaft Fachkräfte – was tun? Wir untersuchen die Pläne der Parteien. Bei diesem Thema ist die Linke an der Reihe.
Im Wahljahr wollen die Bürger wissen, woran sie sind. Deshalb suchen wir uns die wichtigsten Aussagen der Parteien heraus und legen sie auf die Goldwaage: Wie realistisch ist das, was bedeutet es? Darüber diskutieren wir mit Machern, Kritikern und Experten. Das Ergebnis können Sie jeden Samstag bei uns im „Aufwacher“-Podcast hören.
Die These Die Pandemie hat den Blick auf die hohe Belastung und schlechte Bezahlung des Pflegepersonals gelenkt. Das soll sich ändern, auch weil der Pflegebedarf unabhängig von Virenwellen steigen wird. Die große Koalition hat zuletzt eine Reform auf den Weg gebracht: Versorgungsverträge sollen nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden dürfen, die nach Tarifverträgen oder in ähnlicher Höhe bezahlen. Die Höhe der Löhne müssen sich die Beschäftigten allerdings erstreiten. Der Bund gibt ab 2022 jährlich eine Milliarde Euro in die Pflegeversicherung.
Der Plan 100.000 Pflegekräfte mehr in Krankenhäusern, 100.000 weitere in Pflegeheimen, 500 Euro mehr Grundgehalt, lauten die Vorstellungen aus dem Programm der Linken. Kathrin Vogler, Gesundheitsexpertin der Partei im Bundestag, hält zumindest 100.000 zusätzliche Stellen für das „absolute Minimum“. Eine
Ursache, dass viele Pflegende ihrem Beruf wegen der Belastung den Rücken kehren wollen, sei die Finanzierung der Krankenhäuser, die den Bedarf nicht decke. „Wir wollen diese Aussteiger zurückgewinnen“, sagt Vogler. Zum anderen müsse die Stellenbemessung gesetzlich vorgeschrieben werden. Die jüngste Reform hält Vogler für einen Schritt in die richtige Richtung, doch führten
Tariflöhne zu einem deutlichen finanziellen Mehraufwand für Menschen mit Pflegebedarf. Bis zu der von den Linken angestrebten Pflegevollversicherung müsse der Eigenanteil so gedeckelt werden, dass keine Mehrbelastung entstehe. Ein Flächentarifvertrag sei notwendig.
Die Gegenrede Rudolf Henke ist sehr gern bereit, solche Aussagen auf die Goldwaage zu legen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete aus Aachen ist nicht nur Mitglied im Gesundheitsausschuss, sondern auch Präsident der Ärztekammer Nordrhein. Aus seiner Sicht macht sich die Linke selbst einen Strich durch die Rechnung, fordere sie doch zugleich eine Senkung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden. Bei knapp 600.000 Pflegekräften in den Heimen und rund 550.000 in den Krankenhäusern ergebe sich damit ein zusätzlicher Personalbedarf von rund 250.000 Stellen. Trotz massiver Aufstockung würde den Einrichtungen die Arbeitskraft von 50.000 Personen entzogen. Henke ist überzeugt, dass sich durch die 2020 beschlossene Qualifizierungsoffensive mehr Menschen für die Pflegeberufe entscheiden und dadurch auch die Löhne stärker steigen.
Die Einordnung Stellen rauf, Arbeitszeit runter – mit dieser Kritik an der Linken macht es sich der Ärztekammerpräsident dann doch etwas zu einfach, findet Julia Rathcke. Die Politikredakteurin der Rheinischen Post hält es für fair, beide Forderungen nicht zu vermischen. Festzuhalten bleibe: Studien, etwa der Uni Bremen, seien zu dem Schluss gekommen, dass 100.000 Pflegekräfte in Deutschland fehlen und der Bedarf noch steige. Allerdings müsse sich erst zeigen, ob der von Vogler befürchtete „Pflexit“, also massenhafter Berufsausstieg, tatsächlich eintrete. In der Krise sei die Situation emotional extrem aufgeladen. Undschließlich gehe es nicht allein um mehr Geld. In der ganzen Diskussion komme zu kurz, dass die Pflege ein Beruf sein könne, den viele gern ausübten, weil sie etwas Schönes zurückbekommen: Liebe, Dankbarkeit, Erfüllung. Dagegen müsse sich bei den Arbeitsbedingungen etwas tun. Rathckes Fazit: Der Weg, das Ziel zu erreichen, ist noch nicht durchdacht – etwa die Frage, welches Stellenpotenzial allein in der überfälligen Krankenhausreform liege. Sicher erscheine vorerst nur, dass die Pflege mehr Geld kosten werde. Eine Pflegevollversicherung sei jedoch praktisch nicht zu bezahlen.
Den „Aufwacher“-Podcast können Sie über Ihre Podcast-App hören. Sie können dazu mit der Kamera Ihres Smartphones den QR-Code links scannen. Alternativ können Sie auch direkt bei Spotify, Apple Podcasts oder Google Podcasts nach „Aufwacher“suchen. Außerdem können Sie den Podcast direkt auf dem Computer hören. Den Player finden Sie hier:
rp-online.de/goldwaage