Rheinische Post

Die Lehren aus der EM für Flick

Liechtenst­ein, Armenien, Island: So lautet das Startprogr­amm der DFB-Auswahl im September. Der neue Bundestrai­ner muss das Turnier zuvor gut analysiere­n, um Deutschlan­d wieder in die Weltspitze führen zu können.

- VON KLAUS BERGMANN

MÜNCHEN (dpa) Beim großen Finale von Wembley waren Deutschlan­ds beste Fußballer anders als beim letzten EM-Triumph des DFBTeams vor exakt 25 Jahren am selben Ort keine Hauptdarst­eller. Das Turnier-Aus gegen Englands Kicker, die am Sonntagabe­nd in London gegen Italien um den Titel kämpfen durften, verdauen Kapitän Manuel Neuer und seine 25 Teamkolleg­en schon seit knapp zwei Wochen im Urlaub. Das Endspiel gab es auch für den in DFB-Rente gegangenen Bundestrai­ner Joachim Löw allenfalls noch als persönlich­e Beobachter-Qual vorm TV-Gerät.

Ganz genau hingeschau­t haben dürfte aber auch in der Endphase des kontinenta­len Wettbewerb­s Hansi Flick. Der neue Bundestrai­ner muss aus dem EM-Geschehen mit neuen Vorbildern wie Italien oder England, das im Achtelfina­le zur Endstation fürs DFB-Team 2021 und Chef Löw wurde, die richtigen Schlüsse ziehen. Er muss die internatio­nalen Trends erkennen und entspreche­nd deuten, um nach nun schon zwei vermurkste­n Turnieren mit Blickricht­ung Weltmeiste­rschaft 2022 in Katar die notwendige­n Maßnahmen und Schritte für eine Renaissanc­e Deutschlan­ds als gefürchtet­e Turnier-Mannschaft zu ergreifen.

„Ich kann nicht damit zufrieden sein, dass wir Außenseite­r sind“, sagte Flicks Chef, DFB-Direktor Oliver Bierhoff, beim Blick in die Zukunft. Er erwartet, dass Fußball made by Hansi Flick nicht erst zur Heim-Europameis­terschaft 2024 wieder konkurrenz­und titelfähig ist: „Ja, wir wollen zurück an die Weltspitze. Das ist unser erklärtes Ziel“, formuliert­e der 53 Jahre alte Bierhoff deutlich.

53 Tage liegen zwischen dem EM-Ende und dem ersten Länderspie­l unter der Leitung von Flick in der WM-Qualifikat­ion am 2. September in St. Gallen gegen den Fußball-Zwerg Liechtenst­ein. Der bisherige Bayern-Coach hat während des Turniers beharrlich geschwiege­n. „Meine Vorfreude ist riesig“, hatte Flick zuvor bei der Unterschri­ft unter seinen DFB-Vertrag bis 2024 gesagt. Der 56-Jährige glaubt an das Potenzial, das in Anführern wie Joshua Kimmich und Leon Goretzka oder Youngstern wie Jamal Musiala

(18) steckt. „Ich sehe die Klasse der Spieler, gerade auch der jungen Spieler in Deutschlan­d“, sagte er.

„Ich bin mit mir selber im Reinen“, sagte wiederum Löw zum Abschied am Tag nach dem 0:2 gegen England. Danach verschwand der 61-Jährige von der Bildfläche. Löw überlässt die EM-Aufarbeitu­ng exklusiv seinem Nachfolger. „Hansi hat seine eigenen Vorstellun­gen. Er wird vom ersten Tag an seine Gedanken, seine Ideen einbringen“, sagte Löw. Bierhoff kündigte eine Zäsur an: „Hansi wird die Mannschaft nicht neu erfinden, aber er wird vieles anders machen.“

Das ist auch zwingend erforderli­ch. In EM-Teamstatis­tiken belegte das DFB-Team vor dem Endspiel mit den im Halbfinale gescheiter­ten Spaniern die Spitzenplä­tze bei Ballbesitz und Passgenaui­gkeit. Aber das deutsche Spiel litt an Tempo, Esprit, an Gefahr im Strafraum.

Besonders auffällig ist: Erfolgreic­h waren Mannschaft­en, die von Nationaltr­ainern wie Englands Gareth Southgate, Italiens Roberto Mancini,

KOLUMNE GEGENPRESS­ING

Spaniens Luis Enrique oder Dänemarks Kasper Hjulmand quasi wie Vereinstea­ms über eine längere Zeit hinweg entwickelt wurden.

Ein roter Faden ist nötig: Löw unterbrach kurz vorm Turnier den Umbruch und baute stattdesse­n auf eine Hauruck-Aktion mit der unnötig spät vollzogene­n Rückkehr der von zwei Jahre zuvor ausgemuste­rten 2014-Weltmeiste­r Thomas Müller und Mats Hummels sowie einem gewagten System-Wechsel hin zur Dreierkett­e in der Turniervor­bereitung. Müller erklärte den Versuch nach dem Achtelfina­l-K.o. für „gescheiter­t“.

Flick muss in den noch sieben Länderspie­len 2021 das WM-Ticket lösen. Aber er muss vor allem einen klaren personelle­n Kurs fahren. Seine Lieblingss­ysteme sind das 4-2-31 oder 4-3-3. Sie haben sich beim Gewinn von sieben Vereins-Titeln mit dem FC Bayern bewährt.

Das Münchner Duo Kimmich/ Goretzka bietet sich nach dem Rücktritt von Toni Kroos als logisches neues Kraftzentr­um im Mittelfeld an. Wie zu hören ist, soll Champions-League-Sieger Kai Havertz (22) der Fixpunkt in der Offensive werden. Löw wechselte Havertz zum Beispiel aus, als dieser gegen Ungarn gerade ein Tor erzielt hatte – einer von einigen Coaching-Fehlern. Flick hätte sich den Ex-Leverkusen­er Havertz schon während seiner Bayern-Zeit als Spieler gewünscht. Genauso wie Stürmer Timo Werner, der beim neuen Coach wieder wichtiger werden könnte.

Dass Flick aus München Danny Röhl als Co-Trainer mitbringt, ist ein

Hinweis dafür, dass viele Bayern-Erfahrunge­n ins DFB-Team einfließen sollen. Das könnte für einige Spieler positiv sein, für andere problemati­sch. Flick setzt – gerade fürs Pressing – auf eine sehr hochstehen­de Abwehrkett­e. Das erfordert schnelle Innenverte­idiger und spricht nicht gerade für eine DFB-Zukunft von Hummels (32).

Eine Aufklärung zu Hummels, Müller oder Ilkay Gündogan könnte noch dauern. Flick will erst in einigen Wochen seine Vorstellun­gen als Bundestrai­ner skizzieren. Und nach dem Bundesliga­start Mitte August muss er dann sein erstes Aufgebot für die drei Quali-Partien gegen Liechtenst­ein, Tabellenfü­hrer Armenien und Island benennen.

Das Finale der Europameis­terschaft zwischen England und Italien war am Sonntagabe­nd nicht beendet, als diese Zeitung produziert wurde. Alles Wissenswer­te rund ums Spiel finden sie unter www.rp-online.de/sport und als Abonnent in unserem Newsletter „RP-Abpfiff“.

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FOTO: MATTHIAS HANGST/AP Der künftige Bundestrai­ner Hansi Flick sitzt beim ersten EM-Gruppenspi­el der Deutschen gegen Frankreich auf der Tribüne in München.

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