Die Stimme gegen das Schweigen
Die Jüdin überlebte das Konzentrationslager Auschwitz und kämpfte bis zuletzt gegen Intoleranz und Extremismus. Nun ist sie im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben.
Sie hätte gewiss gerne auf ihre Bekanntheit verzichtet und stattdessen ein ruhiges Leben in Israel oder Hamburg geführt. Und doch trauern nun Menschen im ganzen Land um Esther Bejarano. Mit 96 Jahren ist die vielleicht prominenteste deutsche Überlebende des Holocaust am Samstag gestorben. Dass sie die Gräuel des NS-Regimes überlebt hatte, empfand sie ihr Leben lang als ein Wunder. Bis zuletzt erhob sie ihre Stimme gegen rechte Gewalt und Intoleranz.
Erste Risse bekommt die zunächst unbeschwerte Kindheit im Saarland, als Esther Bejarano zehn Jahre alt ist. Plötzlich dürfen sie und ihre Geschwister nicht mehr die
„arische Schule“besuchen, Geschäfte betreten oder ins Kino gehen. Zur geplanten Auswanderung nach Palästina kommt es nicht mehr. 1941 stecken die Nazis alle Auswanderwilligen in Zwangsarbeiterlager. „Hab dich nicht so. Du wirst noch Schlimmeres erleben“, sagt damals ein Polizist zu dem weinenden Mädchen. Bejarano ist gerade einmal 16 Jahre alt. Die Realität übersteigt jegliche Vorstellung dieser düsteren Prophezeiung: Zwei Jahre später steigt die nun 18-Jährige aus einem Viehwaggon im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Eine gehörige Portion
Mut und Glück retten ihr dort das Leben: Als die NS-Schergen für das Lager-Orchester eine Akkordeonspielerin suchen, meldet sie sich, obwohl sie nie zuvor ein Akkordeon in der Hand gehabt hat. Das musikalische Elternhaus bewahrt sie vor dem Tod. Typhus und Keuchhusten überlebt die junge Frau in Auschwitz. Und ein paar Jahre später auch den „Todesmarsch“vom KZ Ravensburg nach Malchow. „Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück“– dies war einer ihrer häufigsten Sätze.
Nach 15 Jahren in Israel kehrt sie 1960 mit ihrer Familie nach Deutschland zurück. In Hamburg eröffnet sie später eine Boutique. Als 1970 die NPD in der Nähe ihres Ladens einen Stand aufbaut, beginnt Bejaranos Kampf gegen das Schweigen. Fortan reist sie durch die Republik und erzählt den Menschen ihre Geschichte. Dabei findet sie auch ungewöhnliche Wege, um gehört zu werden, etwa bei Auftritten mit der Kölner Hip-Hop-Band Microphone Mafia. Alle Generationen hören ihr zu. Und bewundern ihre Kraft, das Unvorstellbare in Worte zu fassen und dabei dennoch lebensbejahend zu wirken. Noch am 20. April dieses Jahres, dem Jahrestag ihrer Ankunft in Auschwitz vor 78 Jahren, traf sie sich mit Schülern eines Kevelaerer Gymnasiums zum digitalen Zeitzeugengespräch.
„Ich glaube, wenn wir Überlebende des Holocaust nicht mehr da sind, dann werden die jungen Menschen unsere Geschichte weitererzählen“, sagte sie einmal. Ein eindeutiger Auftrag für die nachfolgenden Generationen.
Regina Hartleb