Neuer Wegweiser für die Pandemie gesucht
Wegen der Impfungen sagt die Inzidenz inzwischen weniger aus. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen könnte als Indikator gelten.
BERLIN/DÜSSELDORF Lange Zeit war die Inzidenz das Maß aller Dinge. Die Zahl der Neuinfektionen binnen sieben Tagen bezogen auf 100.000 Einwohner zeigte an, wie schlimm Corona in einzelnen Kommunen wütete. Von ihr hängt es bis heute ab, welche Auflagen und Freiheiten gelten. Die „Bild“-Zeitung berichtet nun unter Berufung auf ein Dokument des Robert-Koch-Instituts über eine „Wende in der Corona-Politik“: Nun soll die Hospitalisierung (also die Krankenhauseinweisung) als zusätzlicher Leitindikator für die Politik gelten. Das RKI wollte sich dazu nicht äußern.
Welche Kennzahlen sollen künftig gelten? Die Bundesregierung löst sich künftig ein Stück weit von der Sieben-Tage-Inzidenz als Maßstab für Corona-Einschränkungen. Die Zahl bleibe zwar eine wichtige Orientierung, betonten Regierungssprecher Steffen Seibert und ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Seibert verwies aber darauf, dass sich der Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Zahl der Intensivpatienten „möglicherweise verändert“habe. Es gebe keinen „Automatismus“, sagte er auf die Frage, ob eine Bundesnotbremse bei einer Inzidenz von 100 wieder eingeführt werde solle. Man werde dies notfalls in Abhängigkeit der Fallzahlen, der Fortschritte beim Impfen und der wissenschaftlichen Einschätzung entscheiden.
Was sagen die Kliniken? Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Ingo Morell, sieht den neuen Indikator positiv, fürchtet aber zugleich neue Bürokratie. „Mit zunehmender Durchimpfung verliert die Inzidenzzahl als hauptsächlicher Parameter zur Einschätzung der Gefährlichkeit der Pandemie ihren Wert. Es ist vernünftig, die Zahl der Hospitalisierungen einzubeziehen“, sagte Morell unserer Redaktion: „Allerdings ist die Erhebung dieser Daten bereits im Infektionsschutzgesetz geregelt. Dass es nun eine gesonderte Verordnung geben soll, verstehen wir nicht und befürchten noch mehr Bürokratielast für die Beschäftigten im Krankenhaus.“Gemäß einer Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums sind die Kliniken ab Dienstag dazu verpflichtet, mehr Daten über ihre Corona-Patienten mitzuteilen. So müssen sie Geschlecht, Geburtsdatum, Kontaktdaten, Impfstatus, Dauer des Klinikaufenthalts, Intensivbehandlung und das Vorhandensein von Antikörpern im Blut erfassen.
Was sagen die Länder? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder betonte, er wolle von der Sieben-Tage-Inzidenz zur Beurteilung der Corona-Lage vorerst nicht abrücken. Dies hielte er für verfrüht, sagte der CSU-Chef. Es sei aber „sehr sinnvoll“, etwa die Corona-Krankenhaus-Zahlen dazu in Relation zu setzen und zudem einen Koeffizienten zu finden, der die hohe Zahl der Geimpften berücksichtige. Vielleicht müsse man Grenzwerte auch erhöhen. Sowohl die Bundesnotbremse als auch die Corona-Schutzverordnungen der Länder hängen an den Inzidenzwerten. Nordrhein-Westfalen etwa hat gerade erst die Inzidenzstufe 0 eingeführt. Sie gilt in Kreisen und kreisfreien Städten, die seit mindestens fünf Tagen eine Sieben-Tage-Inzidenz von zehn oder weniger aufweisen. Hier ist ein Großteil der pandemiebedingten Einschränkungen aufgehoben, es gibt keine Kontaktbeschränkung mehr.
Wie sieht es international aus? Großbritannien etwa lässt sich von seiner Sieben-Tage-Inzidenz nicht mehr beeindrucken. Diese liegt aktuell bei 320. Zugleich sind aber 51 Prozent der Briten vollständig geimpft, und 68 Prozent haben bereits die Erstimpfung erhalten. Trotz der hohen Inzidenz will Premier Boris Johnson nun fast alle Auflagen kippen.
Wie geht es beim Impfen weiter? Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV ), Andreas Gassen, hält Impfquoten von 90 Prozent für unerreichbar. Eine hohe Impfquote würde er „bei jenseits der 70 Prozent ansiedeln“, sagte er. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, mahnte: „Freiheitsrechte für Ungeimpfte einzuschränken, käme einer indirekten Impfpflicht gleich. Das halte ich für falsch.“Für Kinder unter zwölf Jahren, Schwangere und Menschen mit bestimmten Erkrankungen gebe es zudem noch kein Impfangebot: „Jeder Erwachsene steht in der Verantwortung, durch seine Impfung dazu beizutragen, das Infektionsgeschehen niedrig zu halten – auch zum Schutz der Kinder. Ich warne vor einer erneuten sozialen Isolierung von Kindern und Jugendlichen, das wäre unverantwortlich.“Es brauche eine Impfkampagne, die alle erreiche: „Ich vermisse den TV-Spot zum Impfen vor der Tagesschau.“Zudem müsse man Kulturvereine und Glaubenseinrichtungen mit ins Boot holen.