Rheinische Post

Neuer Wegweiser für die Pandemie gesucht

Wegen der Impfungen sagt die Inzidenz inzwischen weniger aus. Die Zahl der Krankenhau­seinweisun­gen könnte als Indikator gelten.

- VON ANTJE HÖNING, KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND JANA WOLF

BERLIN/DÜSSELDORF Lange Zeit war die Inzidenz das Maß aller Dinge. Die Zahl der Neuinfekti­onen binnen sieben Tagen bezogen auf 100.000 Einwohner zeigte an, wie schlimm Corona in einzelnen Kommunen wütete. Von ihr hängt es bis heute ab, welche Auflagen und Freiheiten gelten. Die „Bild“-Zeitung berichtet nun unter Berufung auf ein Dokument des Robert-Koch-Instituts über eine „Wende in der Corona-Politik“: Nun soll die Hospitalis­ierung (also die Krankenhau­seinweisun­g) als zusätzlich­er Leitindika­tor für die Politik gelten. Das RKI wollte sich dazu nicht äußern.

Welche Kennzahlen sollen künftig gelten? Die Bundesregi­erung löst sich künftig ein Stück weit von der Sieben-Tage-Inzidenz als Maßstab für Corona-Einschränk­ungen. Die Zahl bleibe zwar eine wichtige Orientieru­ng, betonten Regierungs­sprecher Steffen Seibert und ein Sprecher des Gesundheit­sministeri­ums. Seibert verwies aber darauf, dass sich der Zusammenha­ng zwischen Fallzahlen und Zahl der Intensivpa­tienten „möglicherw­eise verändert“habe. Es gebe keinen „Automatism­us“, sagte er auf die Frage, ob eine Bundesnotb­remse bei einer Inzidenz von 100 wieder eingeführt werde solle. Man werde dies notfalls in Abhängigke­it der Fallzahlen, der Fortschrit­te beim Impfen und der wissenscha­ftlichen Einschätzu­ng entscheide­n.

Was sagen die Kliniken? Der Präsident der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft, Ingo Morell, sieht den neuen Indikator positiv, fürchtet aber zugleich neue Bürokratie. „Mit zunehmende­r Durchimpfu­ng verliert die Inzidenzza­hl als hauptsächl­icher Parameter zur Einschätzu­ng der Gefährlich­keit der Pandemie ihren Wert. Es ist vernünftig, die Zahl der Hospitalis­ierungen einzubezie­hen“, sagte Morell unserer Redaktion: „Allerdings ist die Erhebung dieser Daten bereits im Infektions­schutzgese­tz geregelt. Dass es nun eine gesonderte Verordnung geben soll, verstehen wir nicht und befürchten noch mehr Bürokratie­last für die Beschäftig­ten im Krankenhau­s.“Gemäß einer Verordnung des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums sind die Kliniken ab Dienstag dazu verpflicht­et, mehr Daten über ihre Corona-Patienten mitzuteile­n. So müssen sie Geschlecht, Geburtsdat­um, Kontaktdat­en, Impfstatus, Dauer des Klinikaufe­nthalts, Intensivbe­handlung und das Vorhandens­ein von Antikörper­n im Blut erfassen.

Was sagen die Länder? Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder betonte, er wolle von der Sieben-Tage-Inzidenz zur Beurteilun­g der Corona-Lage vorerst nicht abrücken. Dies hielte er für verfrüht, sagte der CSU-Chef. Es sei aber „sehr sinnvoll“, etwa die Corona-Krankenhau­s-Zahlen dazu in Relation zu setzen und zudem einen Koeffizien­ten zu finden, der die hohe Zahl der Geimpften berücksich­tige. Vielleicht müsse man Grenzwerte auch erhöhen. Sowohl die Bundesnotb­remse als auch die Corona-Schutzvero­rdnungen der Länder hängen an den Inzidenzwe­rten. Nordrhein-Westfalen etwa hat gerade erst die Inzidenzst­ufe 0 eingeführt. Sie gilt in Kreisen und kreisfreie­n Städten, die seit mindestens fünf Tagen eine Sieben-Tage-Inzidenz von zehn oder weniger aufweisen. Hier ist ein Großteil der pandemiebe­dingten Einschränk­ungen aufgehoben, es gibt keine Kontaktbes­chränkung mehr.

Wie sieht es internatio­nal aus? Großbritan­nien etwa lässt sich von seiner Sieben-Tage-Inzidenz nicht mehr beeindruck­en. Diese liegt aktuell bei 320. Zugleich sind aber 51 Prozent der Briten vollständi­g geimpft, und 68 Prozent haben bereits die Erstimpfun­g erhalten. Trotz der hohen Inzidenz will Premier Boris Johnson nun fast alle Auflagen kippen.

Wie geht es beim Impfen weiter? Der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung (KBV ), Andreas Gassen, hält Impfquoten von 90 Prozent für unerreichb­ar. Eine hohe Impfquote würde er „bei jenseits der 70 Prozent ansiedeln“, sagte er. Der Präsident der Bundesärzt­ekammer, Klaus Reinhardt, mahnte: „Freiheitsr­echte für Ungeimpfte einzuschrä­nken, käme einer indirekten Impfpflich­t gleich. Das halte ich für falsch.“Für Kinder unter zwölf Jahren, Schwangere und Menschen mit bestimmten Erkrankung­en gebe es zudem noch kein Impfangebo­t: „Jeder Erwachsene steht in der Verantwort­ung, durch seine Impfung dazu beizutrage­n, das Infektions­geschehen niedrig zu halten – auch zum Schutz der Kinder. Ich warne vor einer erneuten sozialen Isolierung von Kindern und Jugendlich­en, das wäre unverantwo­rtlich.“Es brauche eine Impfkampag­ne, die alle erreiche: „Ich vermisse den TV-Spot zum Impfen vor der Tagesschau.“Zudem müsse man Kulturvere­ine und Glaubensei­nrichtunge­n mit ins Boot holen.

 ?? FOTO: OLE SPATA/DPA ?? Eine Pflegerin versorgt auf einer Intensivst­ation einen an Covid-19 erkrankten Patienten.
FOTO: OLE SPATA/DPA Eine Pflegerin versorgt auf einer Intensivst­ation einen an Covid-19 erkrankten Patienten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany