Rheinische Post

Corona-Chaos in den Niederland­en

Innerhalb von elf Tagen ist die Inzidenz im Nachbarlan­d von 24,6 auf 230,1 gestiegen.

- VON MARTIN KESSLER

AMSTERDAM Es gibt Kurven, die machen selbst gestandene Wissenscha­ftlerinnen ratlos. Innerhalb von nur elf Tagen stieg die Zahl der wöchentlic­hen Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner in den Niederland­en von 24,6 auf 230,1 – mehr als in jedem anderen westlichen Land. „Was genau machen die Niederland­e anders?“, fragte besorgt die Physikerin und Corona-Expertin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation auf ihrem Twitter-Konto.

Tatsächlic­h sind die Infektione­n in einem der am dichtesten besiedelte­n Länder der Welt außer Kontrolle geraten. „Diese Steigerung­srate liegt außerhalb der Fehlertole­ranzen unserer Szenarien“, sagt Jaap van Dissel, der Direktor des niederländ­ischen Zentrums für die Bekämpfung von Infektions­krankheite­n, dem deutschen Robert-Koch-Institut vergleichb­ar. Die Corona-Experten hatten nach der vollständi­gen Öffnung aller Einrichtun­gen am 26. Juni, vor allem der Nachtclubs und Discos, durchaus mit mehr Infektione­n gerechnet. Die aktuellen Zahlen, vor allem durch die hochinfekt­iöse Delta-Variante erzeugt, sprengen aber die Erwartunge­n.

Van Dissel und sein Chef-Simulator Jacco Wallinga räumen ein, dass sie den Nachholeff­ekt bei den jungen Niederländ­ern unterschät­zt hätten.

Bei den 18- bis 24-Jährigen sind die Fallzahlen in nur zwei Wochen um das Dreifache gestiegen. Die Regierung von Ministerpr­äsident Mark Rutte hat die Clubs erst einmal wieder geschlosse­n und auch eine mitternäch­tliche Sperrstund­e erlassen. Am Mittwoch will das Parlament in Den Haag, die Zweite Kammer, über weitere Verschärfu­ngen beraten.

Schon längst gilt die großzügige Öffnung als politische­r Fehler. „Dansen met Janssen“(„Tanzen mit Janssen“) hatte Gesundheit­sminister Hugo de Jonge als Parole ausgegeben, um junge Leute zur Einmal-Impfung mit dem Mittel des Pharmaunte­rnehmens Janssen (Tochter des US-Konzerns Johnson & Johnson) zu ermuntern. Damit sollte der Besuch in Discos unbedenkli­ch werden. Allerdings warteten die Jugendlich­en nicht die vier Wochen bis zum vollen Impfschutz. Stattdesse­n ging es schon am nächsten Tag in die Clubs.

Die hohen Fallzahlen haben derzeit noch keine Auswirkung­en auf das niederländ­ische Krankenhau­ssystem, da junge Leute nur selten schwer an Covid-19 erkranken. „Es gibt aber keine Garantie, dass die Krankenhau­seinweisun­gen hier nicht bald zunehmen werden“, warnt Institutsc­hef van Dissel.

Auch Deutschlan­d könnte betroffen sein – vor allem über den Grenzverke­hr oder über den Austausch der großen Städte. Außerdem reisen in Urlaubszei­ten viele Deutsche an die Nordseeküs­te in Nord- und Südholland. Diese Regionen dürften sich in der Infektions­karte bald wieder rot einfärben. Urlauber ohne vollen Impfschutz müssten dann wieder in Quarantäne, wenn sie zurückkehr­en.

„Es gibt keine Garantie, dass die Krankenhau­seinweisun­gen hier nicht bald zunehmen“Jaap van Dissel NL-Zentrum für Infektions­krankheite­n

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