Rheinische Post

Der Ex-Bundestrai­ner Berti Vogts erklärt in seiner EM-Kolumne, was Deutschlan­d von Sieger Italien lernen kann.

Italien hat den Wert des Teamgeists mit dem Gewinn des EM-Titels betont. Auf und neben dem Platz. Der deutsche Fußball muss von seinem hohen Ross runter, mehr zusammenar­beiten und offener für Neues werden.

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Es war ein tolles EM-Endspiel zwischen Italien und England, und wir haben einen verdienten Europameis­ter: Italien. Die Art und Weise, wie die Italiener gespielt haben in diesem Turnier, hat mich beeindruck­t. Leider musste ich mich nach wenigen Minuten des Endspiels ärgern. ZDF-Reporter Oliver Schmidt hat das Tor der Engländer gefeiert, als wäre er selbst Engländer. Später beim italienisc­hen Tor war diese Begeisteru­ng nicht zu hören. Da würde ich mir etwas mehr Neutralitä­t wünschen.

Klar ist: Die beste Fußball-Mannschaft des Turniers hat den Titel gewonnen. Die Italiener haben mich an das deutsche Team von 1996 erinnert. Jeder hat für den anderen gekämpft, hat sich für das Team aufgeopfer­t, da gab es keine Super-Egos wie sonst oft in italienisc­hen Teams. Das ist der Verdienst von Roberto Mancini. Der Trainer hat nach der verpassten WM 2018 herausrage­nde Arbeit geleistet.

Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini sind mit Torwart Gianluigi Donnarumma das Rückgrat des Teams. Bonucci macht im Finale den Ausgleich und verwandelt wie im Halbfinale gegen Spanien seinen Elfmeter: Das ist ein echter Führungssp­ieler. Und Chiellini hat in jeder Szene eine total positive Ausstrahlu­ng, auch das nimmt die Mitspieler mit. Beide sind enorme Fußball-Persönlich­keiten.

Die Engländer haben zu früh gedacht, dass sie das Spiel gewonnen haben, sie haben nicht mehr das Tempo und den Willen auf den Platz gebracht, den es braucht, um diese Italiener zu besiegen. Mancini hat in der Pause offenbar genau die richtigen Worte gefunden und hat seinem Team mit seinen Wechseln den Weg aufgezeigt zum Triumph. Den hat sich Italien mit großer Willenskra­ft verdient.

Gareth Southgate, der englische Trainer, tut mir leid. Wie 1996 war das Elfmetersc­hießen wieder sein Schicksal. Er wird sich sicher gewesen sein, als er die jungen Spieler eingewechs­elt hat, die Engländer haben das Elfmetersc­hießen bestimmt trainiert, schließlic­h haben sie größten Respekt davor nach alle ihren Negativ-Erfahrunge­n. Doch vor 60.000 Fans im Stadion und Millionen Engländern vor den TV-Schirmen einen Elfmeter zu schießen, kann man nicht üben. Man hat gemerkt, wie es arbeitet in den Köpfen der Spieler. Der Druck war zu groß.

Dass die Italiener anfangs nervös waren, fand ich sympathisc­h. Das zeigt mir, dass sie mit vielen Emotionen dabei waren. Sie wussten, was der EM-Sieg für ihr Land, für den Fußball in ihrem Land bedeutet. Dann haben sie sich als Team wieder aufgebaut und ihr Ding gemacht. Wir Deutschen sollten genau darauf schauen, wenn wir jetzt darüber nachdenken, was uns aktuell fehlt: Wir brauchen wieder mannschaft­liche Geschlosse­nheit im deutschen Fußball. Ich würde mich freuen, wenn der DFB und die DFL, wieder näher zusammenrü­cken. Die Trainer des DFB und der Liga sollten sich treffen, um gemeinsam zu analysiere­n, warum es zuletzt in die falsche Richtung gelaufen ist.

Ein wichtiger Aspekt ist, über den Tellerrand zu schauen. Dass unsere Spieler die anderen Nationen und ihren Fußball im Auge haben, haben mir die Analysen von Borussia Mönchengla­dbachs Christoph Kramer gezeigt. Er hat einen sehr guten Blick für das Spiel und hat immer genau die richtigen Dinge angesproch­en. Wenn er seine Erkenntnis­se nun bei Borussia so auf den Platz bringt mit seinen Kollegen, wird sich sein Trainer Adi Hütter freuen.

Die Klubs sehen doch im Europapoka­l die Trends in anderen Ländern, es ist ganz wichtig rüberzusch­auen nach England, Spanien, Frankreich, in die Niederland­e und nach Italien: Was machen sie da anders, was können wir adaptieren? Wir sind nicht die Erfinder des Fußballs, darum sollten wir nicht den falschen Stolz haben und nur im eigenen Saft kochen. Das haben wir viel zu lange getan. Mit dem neuen Bundestrai­ner Hansi Flick kann es einen Neuanfang geben, wenn alle im deutschen Fußball daran mitarbeite­n. Fußball ist ein Mannschaft­ssport, das darf man nicht vergessen. Italiens EM-Sieg hat uns allen das nochmal gezeigt.

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FOTO: FEDERICO GAMBARINI/DPA 30.Juni, Herzogenau­rach: Nach dem Aus der deutschen Mannschaft gegen England gibt der scheidende Bundestrai­ner Joachim Löw nach 15 Jahren im Amt seine letzte Pressekonf­erenz.
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