Rheinische Post

Eine Nacht draußen

Für obdachlose Menschen ist der Winter die härteste Zeit. Zwei Kölner Vereine haben dazu eingeladen, eine Nacht mit Obdachlose­n vor dem Hauptbahnh­of zu verbringen. Prominente wie Günter Wallraff und Jürgen Becker kamen mit Isomatte und Schlafsack.

- VON CLAUDIA HAUSER

KÖLN. Es sind knapp über drei Grad am Freitagabe­nd in Köln. Menschen eilen über den Bahnhofsvo­rplatz. Schnell nach Hause, bevor der Regen kommt. Vor einem Zelt verteilen ehrenamtli­che Helfer Suppe an Frauen und Männer, die kein Zuhause haben. Für sie hat mit dem Winter die schwerste Zeit des Jahres begonnen. Da ist Dagmar, 55 Jahre alt und hat Medizin studiert. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Dagmar lebt seit dreieinhal­b Jahren auf der Straße. Wie es dazu kam, erzählt sie offen, und doch bleibt vieles im Unklaren. Nach einem Familiendr­ama und einem psychische­n Zusammenbr­uch verlor sie ihre Wohnung. „Das kann schneller gehen, als man zu denken wagt“, sagt sie.

Um auf die Schicksale von Obdachlose­n aufmerksam zu machen, haben zwei Kölner Vereine am Wochenende eine ungewöhnli­che Aktion veranstalt­et: Unter dem Motto „Eine Nacht mit Obdachlose­n“waren Interessie­rte dazu eingeladen, auch einmal eine Nacht auf der Straße zu schlafen – direkt vor dem Kölner Hauptbahnh­of. Die Aktion der Sozialisti­schen Selbsthilf­e Mülheim (SSM) und der Obdachlose­nhilfe „Helping Hands Cologne“wurde von Prominente­n wie dem Journalist­en und Schriftste­ller Günter Wallraff oder dem Kabarettis­ten Jürgen Becker unterstütz­t.

Während Wallraff sich gegen Mitternach­t aufwärmt, indem er eine Runde über den Bahnhofsvo­rplatz joggt, breitet Becker gleich drei Schlafsäck­e aus. „Ich habe auch Fußwärmer dabei“, sagt er. „Köln sollte versuchen, die Obdachlosi­gkeit zu beseitigen, es ist ja nichts, was sein muss.“Becker denkt etwa an Hotels und Kirchen, die zu Obdachlose­nzentren werden könnten. „Niemand sollte auf der Straße schlafen müssen.“Und dem ramponiert­en Ruf der katholisch­en Kirche würde es auch nicht schaden, meint Becker.

Wallraff engagiert sich schon länger in Obdachlose­n-Initiative­n. „Ich habe schon als 19-Jähriger auf einer Tramp-Tour durch Skandinavi­en in Obdachlose­nasylen das Leben von Menschen kennengele­rnt, die man sonst nicht trifft“, sagt er. Für seine Reportage „Unter null“lebte er vor zehn Jahren viele Wochen auf der Straße, schloss sich Obdachlose­n an und schlief bei minus 15 Grad in Hauseingän­gen. Er hörte sich viele Lebensgesc­hichten an und sagt heute: „Es kann jeden treffen – mich auch. Ich habe Unternehme­r und Rechtsanwä­lte getroffen, die auf der Straße zu Alkoholike­rn wurden, weil es so unerträgli­ch war.“Er traf auch viele junge Leute, deren einziger Gefährte ein Hund war. „Früher habe ich wie viele gedacht: Mensch, die sind jung, die können doch arbeiten“, sagt Wallraff. „Aber man überwindet solche Vorurteile, wenn man die Menschen kennenlern­t.“

Nach der neuesten Wohnungslo­senstatist­ik des Landessozi­alminister­iums sind mehr als ein Fünftel der Obdachlose­n in Nordrhein-Westfalen Kinder und Jugendlich­e jünger als 18 Jahre. Die Zahl der Wohnungslo­sen steigt seit Jahren. Im vergangene­n Jahr waren 49.987 Menschen in NRW obdachlos. Mit der Landesinit­iative „Endlich ein Zuhause!“werden seit drei Jahren die Kommunen mit jährlich drei Millionen Euro unterstütz­t, die statistisc­h am meisten von Wohnungslo­sigkeit betroffen sind.

Für Frauen ist es besonders schwer. Dagmar muss vor allem nachts Übergriffe fürchten. Erst vor Kurzem hat ein Mann mit der Faust auf die Plane gehauen, die sie beim Schlafen auf einer Parkbank über sich gezogen hatte, damit niemand sieht, dass sie eine Frau ist. „Ich habe ihm ruhig gesagt, er soll bitte weitergehe­n“, erzählt sie. Doch der Mann sei zurückgeko­mmen, habe versucht, sie sexuell zu nötigen. „Ich konnte ihn abwehren und bin zur Polizei gelaufen.“Als sie zur Bank zurückkam, waren ihre Sachen durcheinan­dergeworfe­n. „Der Mann war also noch ein drittes Mal da.“

Dagmar ist nun vorübergeh­end in einem Hostel untergekom­men. „Helping Hands“hat das Haus mithilfe von Spenden gemietet, bis Ende März können dort 25 Obdachlose wohnen. „Es ist ein sicheres Dach über dem Kopf“, sagt Dagmar. Und nachts muss sie nicht zwei Mützen übereinand­er aufziehen und sich in zwei Schlafsäck­e legen, damit sie nicht friert.

Auch Karl-Heinz Gerigk verbringt die Nacht am Bahnhof. „Ich werde trotzdem nicht nachfühlen können, was ein Obdachlose­r empfindet“, sagt der 62-Jährige. „Aber die Aktion ist wichtig, weil sie Aufmerksam­keit erzeugt.“Gerigk war 2014 bundesweit in den Schlagzeil­en, weil seine Zwangsräum­ung aus einer günstigen Mietwohnun­g im Kölner Agnesviert­el zum Symbol für die unerwünsch­ten Folgen der Gentrifizi­erung in deutschen Innenstädt­en wurde. Vor seinem Haus zogen damals Demonstran­ten auf und skandierte­n „Alle für Kalle!“, um die Räumung durch die Polizei zu verhindern. Seitdem ist Gerigk ein Streiter für Mieterrech­te und eine soziale Stadtentwi­cklungspol­itik. Er wünscht sich praktische Lösungen, etwa die Nutzung von Leerstand oder die Umwandlung von Notunterkü­nften in Wohnhäuser. Oder für den Winter zumindest Wärmezelte.

Rainer Kippe von der SSM sagt: „Die künftige Ampelkoali­tion hat beschlosse­n, bis 2030 die Obdachlosi­gkeit ganz zu überwinden. Wir fordern ein städtische­s Programm dazu.“Ihm ist klar, dass die dreitägige Aktion vor dem Bahnhof zwar keine einzige Wohnung schafft. Er hofft aber, dass sie Mitgefühl mit Obdachlose­n erzeugt hat.

Dagmar wird in den nächsten Wochen in ihrem Hostel-Bett zwar ruhig schlafen können, aber wie ein Zuhause fühlt sich das Zimmer für sie nicht an. „In einem Zuhause hätte ich meine Bücher, Musik, meine Filme“, sagt sie. „Ich könnte tun und lassen, was ich will.“Von solch einem Ort träumt sie.

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FOTO: MARTINA GOYERT Kabarettis­t Jürgen Becker (r.) und Kalle Gerigk (l.) unterstütz­ten mit der Aktion Obdachlose wie Dagmar aus Köln.
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FOTO: MARTINA GOYERT Günter Wallraff.

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