Der neue Lindner
Der Sonderparteitag der FDP macht den Weg frei für die Regierungsbeteiligung.
BERLIN Viel zu früh verlässt Christian Lindner das Rednerpult, geht zu seinem Sitzplatz und putzt sich die Nase. Schon glaubt die Tagungspräsidentin, der FDP-Chef sei mit seiner Rede auf dem digitalen Sonderparteitag zu Ende. „Augenblick, ich wollte noch ein paar Sätze sagen“, erklärt Lindner lächelnd und geht zurück auf die Bühne in der „Station Berlin“. Die ersten Minuten, die Lindner vom Papier ablesend der Corona-Krise widmete, waren nur eine Ouvertüre. Was folgt, ist eine weitere 40-minütige freie Rede, mit der der künftige Bundesfinanzminister den Gang der FDP in die historische Ampelkoalition begründet.
Die Liberalen hätten ausdrücklich keine Koalitionsaussage gemacht, sie seien eine eigenständige Partei und würden nach jeder Wahl neu über Koalitionen entscheiden, betont Lindner. Mit SPD und Grünen bestehe die Chance, einen gesellschaftspolitischen Aufbruch zu organisieren. „Fangen wir an“, lautet auch das Motto dieses Parteitags. „Vielleicht ist es wie nach einer überlangen Sitzung. Dann öffnet man das Fenster, und erst dann stellt man fest, wie schlecht und verbraucht die Luft gewesen ist. Wir haben jetzt die Chance, unser Land zu verändern mit hinreichend frischer Luft“, sagt Lindner.
Tatsächlich hat die FDP dem Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen ihren Stempel aufdrücken können – in der allgemeinen Wahrnehmung stärker als die Grünen und sogar die SPD. „Wir werden diese Koalition – dessen bin ich mir sicher – prägen. Auch das Regierungshandeln in Deutschland werden wir prägen. Aber lassen wir doch auch zu, dass das Regierungshandeln uns als Partei prägt“, erklärt Lindner. In einer Jamaika-Koalition hätte er nicht mehr durchsetzen können.
Die Vertraulichkeit der AmpelGespräche sei für ihn „ein Stück einer veränderten politischen Kultur“, schwärmt Lindner. Was dabei herausgekommen sei, sei ein „Koalitionsvertrag der Mitte“. Und er lobt Olaf Scholz: „Insbesondere der designierte Bundeskanzler hat es vermocht, zuvor Trennendes zu verbinden“, sagt Lindner, dessen Tonlage sich nach der Wahl geändert hatte. Der neue Lindner ist nicht mehr scharfzüngig, sondern staatstragend und ausgleichend.
Schon in seiner Rede-Ouvertüre hatte der Partei- und Fraktionschef betont, dass die FDP in der Corona-Politik „keine Kehrtwende vollzieht“, wenn sie nun angesichts der bedrohlichen vierten Welle neben der Freiheit die Verantwortung stärker betont. „Freiheit verliert an Wert, wenn sie nicht gelebt werden kann“, erklärt Lindner, der im Bundestag persönlich für eine allgemeine Impfpflicht stimmen will, die die FDP bisher strikt abgelehnt hatte.
Er stellt fünf Projekte der Ampel heraus: Sie wolle durch bessere Bildungspolitik das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft erneuern, private Initiative etwa durch schnellere Planungsverfahren entfesseln, das Einwanderungsrecht modernisieren, Verwaltung und Wirtschaft digitalisieren und für solide Finanzen sorgen. „Wir haben vor vier Jahren den Mut gehabt, Nein (zu Jamaika, d. Red.) zu sagen, genauso sollten wir jetzt nach vier Jahren den Mut haben, Ja zu sagen“, bittet Lindner die Delegierten um Zustimmung. Große Zufriedenheit mit dem Vertrag spiegelt schon die Aussprache der Delegierten, in der kaum ein kritisches Wort fällt. Am Ende gibt es ein starkes Votum für den Koalitionsvertrag: 92,2 Prozent der Delegierten stimmen dafür.