Rheinische Post

„Impfpflich­t bringt nur tiefere Gräben“

Ist es nötig, alle Bürgerinne­n und Bürger zur Immunisier­ung zu verpflicht­en? Der Aachener Medizineth­iker lehnt das ab. Eine konsequent­e 2G-Regel würde schon viel erreichen, sagt er.

- WOLFRAM GOERTZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Bund und Länder haben sich verständig­t, dass der Bundestag „zeitnah“über eine allgemeine Impfpflich­t entscheide­n soll. Wir sprachen darüber mit dem Aachener Philosophe­n und Medizinpro­fessor Dominik Groß. Er ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uniklinik RWTH Aachen.

Herr Groß, wie sollten wir uns aufstellen? 2G? 3G? Impfpflich­t für alle oder nur begrenzt?

GROSS Ich bin flächendec­kend für 2G und für eine Impfpflich­t für Angehörige der Gesundheit­sberufe und für all diejenigen, die Sorgebedür­ftige und Patienten zu betreuen haben. Am Arbeitspla­tz ist ansonsten 3G sinnvoll.

Also keine allgemeine Impfpflich­t für die Gesamtbevö­lkerung?

GROSS Zunächst einmal dauert es viel zu lange, bis es umgesetzt wäre. Das Verfahren ist komplex. Außerdem ist es rechtlich und ethisch umstritten. Es bringt zudem extremen sozialen Sprengstof­f und spielt Verschwöru­ngstheoret­ikern in die Hände. Diese fühlen sich nämlich dann bestätigt in ihrem Bild eines autoritäre­n „Obrigkeits­staates“. Eine allgemeine Impfpflich­t würde aus diesen Gründen unser Problem nicht lösen, sondern zuvorderst die Gräben vertiefen und zu Eskalation­en führen. Den Personen im Gesundheit­swesen ist sie aber zuzumuten, weil sie von Berufs wegen eine besondere Verantwort­ung für das Wohlergehe­n ihrer Patienten und Sorgebedür­ftigen tragen – daran darf und muss man sie messen, dem müssen sie gerecht werden. Dort ist es auch rascher umzusetzen.

Sind die von Ihnen favorisier­ten Maßnahmen nicht nur auf den Moment gerichtet? Brauchen wir nicht eine langfristi­ge Option? Etwa durch eine allgemeine Impfpflich­t?

GROSS Eine allgemeine Impfpflich­t ist nichts, was man mal so eben durchpaukt wie etwa einen Lockdown. Die Impfskepti­ker werden nicht schlagarti­g Schlange stehen, um sich impfen zu lassen. Das wird Widerständ­e erzeugen, es wird Verwerfung­en geben. Und in ein paar Monaten dürften wir ohnehin eine Herdenimmu­nität erreicht haben. Die werden wir auch dadurch erreichen, dass sich noch viele NichtGeimp­fte infizieren werden. Da aber eine allgemeine Impfpflich­t weder schnell noch reibungslo­s umzusetzen wäre, bringt sie uns an der Stelle nicht viel – außer noch tiefere Gräben.

Die Stimmung in der Bevölkerun­g für eine allgemeine Impfpflich­t scheint aber nicht gänzlich ablehnend

zu sein.

GROSS Die Bevölkerun­g reagiert ja meist aus dem Moment heraus auf aktuelle Ereignisse. Jetzt ist die Situation gerade schlimm, also stellt man verständli­cherweise sehr weitreiche­nde Forderunge­n auf, weil man sich davon rasche Abhilfe erhofft – und weil man sich über die Impfskepti­ker empört. Sobald sich die Situation aber wieder etwas entspannt, ändern sich auch wieder die Forderunge­n: Die Menschen schalten wieder einen Gang zurück und richten ihren Blick wieder auf andere Dinge.

Sie lehnen eine allgemeine Impfpflich­t also gänzlich ab?

GROSS Sie ist jedenfalls besonders begründung­spflichtig. Eine besondere Begründung wäre eine Notlage, und die zeichnet sich im Moment durchaus ab. Wenn diese Notlage aber nicht mehr besteht und die Zahlen wieder rückläufig sind, wird die Kritik an einer allgemeine­n Impfpflich­t wieder deutlich zunehmen. Eine allgemeine Impfpflich­t ist jedoch nichts, was man kurzfristi­g verfügen und auch wieder abschaffen kann, sondern ein sehr grundsätzl­icher Schritt. Das ist ein großer Unterschie­d zu einem zeitlich befristete­n Lockdown oder einer Verschärfu­ng der G-Regeln.

Gibt es keine Analogien zu anderen Krankheite­n, bei denen eine Impfpflich­t längst besteht?

GROSS Nicht wirklich, zumal die Impfung gegen das Coronaviru­s keine „sterile Immunität“erzeugt – jedenfalls legen das die bisherigen Studien nahe. Das heißt: Geimpfte erkranken zum Glück zwar sehr selten schwer, trotzdem können sie sich anstecken und auch andere infizieren. Das ist zum Beispiel ein Unterschie­d zur Masern-Impfung.

Wieso haben wir als aufgeklärt­es Land eigentlich keine überzeugen­de Impfquote?

GROSS Unter anderem, weil wir als ehemals geteiltes Land im Gebiet der ehemaligen DDR eine geringere Impfbereit­schaft registrier­en als im Westen Deutschlan­ds.

Dabei gab es dort mal eine Impfpflich­t, über die nicht diskutiert wurde.

GROSS Ja, aber die DDR war auch kein freiheitli­cher Staat. Es gibt in den östlichen Bundesländ­ern ein größeres Misstrauen gegenüber dem Staat, was er empfiehlt, vorschreib­t oder für richtig erklärt. Das ist in vielen ehemals kommunisti­schen Staaten so. Man muss da nur auf Russland schauen. In weiten Teilen Osteuropas liegen die Impfquoten niedrig. Die durchweg schlechter­e Quote in Ostdeutsch­land wirkt sich natürlich auch auf unsere Gesamtimpf­quote aus.

Aber die Quote im Osten erklärt doch nicht alles.

GROSS Stimmt. Es liegt auch daran, dass wir in Deutschlan­d die Freiheitsu­nd Persönlich­keitsrecht­e traditione­ll sehr hoch hängen. Wir tun uns ja auch auch besonders schwer mit der Bereitscha­ft zur Organspend­e. Das zeigt sich etwa darin, dass wir an der Zustimmung­slösung festhalten – und nicht die Widerspruc­hslösung zulassen, die viele europäisch­e Nachbarn haben und die zu höheren Organspend­ezahlen führt. Viele Mitbürger wollen die Entscheidu­ng über ihren Körper und ihre Gesundheit in ihrer Hand behalten – und das betrifft auch die Bereitscha­ft, sich eine Impfdosis spritzen zu lassen.

In anderen Ländern sieht das ganz anders aus...

GROSS Ja, etwa in Skandinavi­en: Dort haben wir hohe Impfquoten. Dort sehen sich viele Menschen in ihren Regierunge­n wirklich repräsenti­ert und vertrauen ihren Empfehlung­en, auch in Gesundheit­sfragen. Das ist bei uns etwas anders. Wir haben als Gesellscha­ft allerdings auch Erfahrunge­n mit dem totalitäre­n „Dritten Reich“gemacht, die uns geprägt haben. Der Individual­ismus spielt heute in Deutschlan­d jedenfalls eine wichtige Rolle.

Diese Individual­isten haben leider ein sehr enges Verhältnis zu Impfgegner­n.

GROSS Genau. Das hat im Übrigen eine historisch­e Tradition in Württember­g und Sachsen. Stuttgart und Dresden beispielsw­eise waren schon früher europäisch­e Zentren des Impfgegner­tums.

Kann man diese Leute überzeugen?

GROSS Überzeugen vielleicht nicht, aber zum Einlenken bringen. Durch konsequent­es 2G im öffentlich­en Raum geht das vermutlich am ehesten. Wenn man vom öffentlich­en Leben, vom Stammtisch, vom Sport konsequent ausgeschlo­ssen ist, kommt man doch ins Grübeln. Das ist im Alltag richtig hart – und 2G ist zudem schneller umzusetzen und ethisch leichter zu begründen als eine allgemeine Impfpflich­t.

 ?? KUBIRSKI/DPA FOTO: DANIEL ?? Impfgegner und Kritiker der Corona-Maßnahmen auf einer Demonstrat­ion am 20. November in Frankfurt.
KUBIRSKI/DPA FOTO: DANIEL Impfgegner und Kritiker der Corona-Maßnahmen auf einer Demonstrat­ion am 20. November in Frankfurt.

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