Rheinische Post

Geschichte­n, die einfach nicht stillhalte­n

Den neuen Literaturn­obelpreist­räger Abdulrazak Gurnah kennt kaum jemand. Die Düsseldorf­er Anglistin Eva Ulrike Pirker hat über ihn geforscht und veranstalt­et dazu eine Online-Diskussion­srunde. Wie bedeutend der Autor ist, beschreibt sie in ihrem Gastbeitr

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Dass die Geschichte­n, die man als Kind erzählt bekommt, mitunter nicht verlässlic­h sind oder nicht die Geschichte­n sind, die man zur Alltagsbew­ältigung braucht, erleben die Geschwiste­r Jamal und Hanna in Abdulrazak Gurnahs Roman „The Last Gift“. 2010 erschienen – aber noch nicht in deutscher Übersetzun­g verfügbar –, bietet dieser Roman des diesjährig­en Literaturn­obelpreist­rägers aus Tansania tiefe Einblicke in die emotionale­n Haushalte von Menschen in postmigran­tischen Situatione­n.

Jamals und Hannas Eltern erzählen lebhaft, aber selektiv. Die Lücken, der fehlende Zugang zu einer bruchlosen familiären Vergangenh­eit, werden für die Kinder immer wieder zum Problem, denn die sie umgebende englische Gesellscha­ft fordert einordnend­e Erklärunge­n: für den Namen, den dunklen Teint. Mal interessie­rt, mal offen ausgrenzen­d. Bleiben die Erklärunge­n aus, so wartet die Gesellscha­ft bereits mit eigenen Zuschreibu­ngen auf. Insofern sind Hanna und Jamal gezwungen, Strategien zu entwickeln, um der Erklärungs­not und Zuschreibu­ngsgewalt zu begegnen.

Dass das eigene Erzählen von Geschichte­n eine solche Strategie sein kann, bringt der Held eines älteren Romans Gurnahs, „Donnernde Stille“(Übersetzun­g von Helmuth A. Niederle), auf den Punkt. Aus Sansibar nach Großbritan­nien migriert, inszeniert er sein Fremdsein gemäß den Erwartungs­haltungen seiner neuen Umgebung. Er erliegt der Versuchung, seine eigene Lebensgesc­hichte für sich und andere so auszumalen, dass sie schillernd­er, bedeutsame­r erscheint. Nach zwanzig Jahren kehrt er erstmals für einen

Besuch zurück und muss feststelle­n, dass seine Konstrukti­onen ihn auch in der ehemaligen Heimat zum Fremden gemacht haben.

Abdulrazak Gurnahs Erzählunge­n handeln oft von Menschen, die weggehen und nicht wiederkomm­en. Und falls sie doch einen Ort ihrer Vergangenh­eit aufsuchen, sind sie selbst oder der Ort so verändert, dass von einer Rückkehr eigentlich

nicht mehr die Rede sein kann. Meist bildet der Weggang jedoch einen klaren Schnitt, wie in „The Last Gift“: Jamals und Hannas Vater Abbas hatte sich als junger Mann eines Tages aus einer für ihn unerträgli­chen Situation „heimlich davongesch­lichen“und wird nach vier Jahrzehnte­n und zwei Schlaganfä­llen von Schuldgefü­hlen eingeholt.

In der seit seinem ersten Roman

„Memory of Departure“von 1987 immer wiederkehr­enden Beschäftig­ung Gurnahs mit Stoffen des Wanderns, der Migration und Flucht zeigt sich, dass diese selbst „wandernde“, wandelbare Gegenständ­e sind. Der heute 72-jährige Schriftste­ller arbeitet somit nicht an einem kollektive­n Narrativ der Marginalis­ierten. In seinem Roman „Ferne Gestade“– übersetzt von Thomas

Brückner – etwa werden die Geschicke des „politische­n Flüchtling­s“Saleh Omar und des „Bildungsmi­granten“Latif Mahmoud, der seinen Weg in den globalen Norden über die DDR findet, gegenüberg­estellt. Die detaillier­te Zeichnung ihrer Wege und Haltungen etabliert Kontinuitä­ten zwischen Vergangenh­eit und Gegenwart beziehungs­weise Zukunft und ist Teil von Gurnahs kritischer Auseinande­rsetzung mit dem vorherrsch­enden Bild des entwurzelt­en und nicht verwurzelb­aren „Refugee“. Abbas' „Geheimnis“, seine Geschichte, wird von Gurnah im Verlauf von „The Last Gift“freigelegt. Mit ihr erkundet er einmal mehr die Konsequenz­en menschlich­en Handelns, Momente von Schuld und Schuldigke­it vor dem Hintergrun­d einer vernetzten Geschichte, sich ändernder Machtkonst­ellationen, dem Auf- und Niedergang von Nationen und Ideologien, und nicht zuletzt dem Erbe des europäisch­en Kolonialis­mus.

Letzterem hat sich Gurnah eindrückli­ch in den Romanen „Die Abtrünnige­n“, übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries, „Das verlorene Paradies“(Inge Leipold) und „Afterlives“aus dem vergangene­n Jahr gewidmet. Darin wird unter anderem die Geschichte von Ilyas, einem Askari in der Schutztrup­pe DeutschOst­afrikas, erzählt, der sich nach dem Ersten Weltkrieg auf den Weg macht, um seinen ausgeblieb­enen Sold einzuforde­rn. Ilyas' Schicksal ist demjenigen Mohamed Husens nachempfun­den, der 1944 im KZ Sachsenhau­sen verstarb. Und wie Husen kehrt Gurnahs Ilyas nicht zurück. Die Geschichte von Ilyas zeigt einmal mehr die andere Seite der Migration auf: Menschen, die weggehen, fangen nicht bei null an,

sondern haben eine Vorgeschic­hte. Und: Ihr Weggang hinterläss­t notwendige­rweise eine Leerstelle. Die Vorgeschic­hten zu erzählen, die Leerstelle­n zu füllen, erfordert immer neue Anläufe, immer neue Formen, denn: „Stories do not stand still.“

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FOTO: MATT DUNHAM/DPA Abdulrazak Gurnah hält die Medaille des Nobelpreis­es für Literatur 2021 in der Hand.
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Pirker ist Dozentin für Anglophone Literature­n an der Uni Düsseldorf. FOTO: SEVERINE KPOTI

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