Rheinische Post

WISSENSDRA­NG Familienzo­ff an Weihnachte­n

Viele Menschen halten ihre Liebsten in Abhängigke­it. Auch mit unlauteren Mitteln.

- Unsere Autorin ist Philosophi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

Mit Weihnachte­n verbindet sich eine unstillbar­e Sehnsucht nach harmonisch­em Frieden in der Familie. Die weihnachtl­ichen Friedensho­ffnungen führen jedoch oft zu Wutausbrüc­hen, Tränen, Demütigung­en. Mia wird gewisse Bemerkunge­n ihrer Mutter zum Anlass nehmen, sich schmollend auf ihr Zimmer zurückzuzi­ehen. Ihre Mutter, die sich keiner Schuld bewusst ist, wird heulend mit der gefrorenen Gans in der Küche zurückblei­ben. Wenn die Erwartung groß ist, genügt auch schon ein Blick, und alles erscheint in unheilvoll­em Licht. Der Vater hat dem Sohn zu dessen Freude das Geld für eine Eigentumsw­ohnung geliehen. Aber beim weihnachtl­ichen Familienbe­such wird sich herausstel­len, dass er sich damit auch selbst etwas gekauft zu haben glaubt: das Recht, weiterhin unerbetene­n Rat zu erteilen. Die mürrische Verschloss­enheit seines Sohnes wird ihn auf die Palme treiben. Spätestens am zweiten Weihnachts­morgen dämmert den Verkaterte­n die Wahrheit: Die eigene Familie besteht aus rücksichts­losen Rechthaber­n und Egozentrik­ern, arroganten Zicken und emotionale­n Erpresseri­nnen. Und wie jedes Jahr stellt sich die Frage: Wieso können die Eltern nicht wie andere Menschen akzeptiere­n, dass man sein eigenes Leben führt? Warum sind die eigenen Kinder so undankbar für all das, was man für sie tut?

Die Preisfrage: Wie kann man sich auf das Fest vorbereite­n, ohne unrealisti­sche Erwartunge­n aufzubauen? Wie schafft man es, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen? Wirklich religiöse Menschen schaffen das mitunter. Den anderen empfehle ich die alte Serie „Gilmore Girls“, die schonungsl­os vorführt: Menschen wollen nicht die Unabhängig­keit ihrer Liebsten, sondern ihre Abhängigke­it. Sie setzen Zuckerbrot und Peitsche ein. Und sie rächen sich immer, wenn ihre Erwartunge­n enttäuscht werden. Die Serie bietet aber auch genügend ScrewballS­paß, Fantasie, Frechheit, Gemütlichk­eit, Kitsch und Sentimenta­lität, um das gut zu ertragen. Und gemeinsam in der Familie darüber zu lachen.

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MARIA-SIBYLLA LOTTER

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