Wachstumsfreuden statt Schmerzen
SPD, Grüne und FDP unterschreiben den Koalitionsvertrag – außenpolitisch wagt noch keiner etwas
BERLIN Musik, ein wenig Glamour? Das Aufregendste bei der Unterzeichnung des Ampel-Koalitionsvertrages ist das Gebäude. SPD, Grüne und FDP haben sich das Futurium ausgesucht, einen Glaskubus, in dem Wissenschaftler forschen. Das passt zum Titel des 177-seitigen Vertrages: „Mehr Fortschritt wagen“. Scholz wünscht einen schönen guten Morgen – „ein Morgen, an dem wir aufbrechen zu einer neuen Regierung“. Die künftigen Minister tuscheln aufgeregt auf ihren Plätzen. Den kleinen Partnern ist die Bürde der nahenden Verantwortung anzumerken. Der FDP-Chef und nächste Finanzminister Christian Lindner sagt: „Wir geben uns keiner Illusion hin.“GrünenVizekanzler Robert Habeck flüchtet in den Satz: „Ab heute sind wir eine Regierung für die Menschen.“
Dann schreiten sie nacheinander an einen ellipsenförmigen Tisch, setzen ihre Unterschrift unter drei Exemplare des Koalitionsvertrages. Nur Anton Hofreiter und Katrin GöringEckardt, die Verlierer im grünen Ministerpostenpoker, schauen traurig in die Ferne. Eine gute Viertelstunde dauert die Unterzeichnung. Scholz, Lindner und Habeck laufen anschließend die 290 Meter am Spreeufer entlang zu Fuß, müssen allerdings noch kurz an einer roten Ampel warten, ehe sie vor der blauen Wand der
Bundespressekonferenz Platz nehmen können.
Was für ein Signal das sei, dass außer den Ampel-Spitzenmännern keine Frau mit auf dem Podium sitzt, wird Scholz von einer Journalistin gefragt. Er finde es sehr gut, dass man nun ein paritätisch besetztes Kabinett habe, das „sehr verantwortungsvolle Aufgaben“übernehme, weicht er aus. Damit spielt Scholz auf innere und äußere Sicherheit an. Die Ressorts Inneres, Verteidigung, Auswärtiges und Entwicklung werden künftig alle von Frauen geleitet. Das sei ein „sehr gutes Signal“mit Blick auf das Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Gleichstellung von Frauen und Männern „endgültig gelingt“, sagt Scholz. Dieses Ziel eine alle drei Ampelparteien.
Was ihre drei männlichen Spitzenvertreter auch eint, ist, dass sie gestellte Fragen umschiffen. Besonders bei Habeck und Lindner, die man noch in der Rolle als Oppositionspolitiker im Ohr hat, klingen die Ausführungen in der neuen Regierungsrolle plötzlich umso weicher, kantenloser. Die drei Parteien würden sich in der Regierung natürlich verändern, sagt Habeck, „aber zum
Besseren“. Er sehe keine „Schmerzgrenzen“, sondern „Wachstumsfreuden“, frohlockt der designierte Wirtschaftsminister. Und Lindner säuselt hinterher, dass man sich „nicht begrenzen“, „sondern erweitern“wolle. Der neue Harmoniesprech der Ampel ist bereits gut eingeübt. Der Beweis dafür, ob das zu „mehr Fortschritt führt“, wie der neue Koalitionsvertrag verspricht, steht noch aus.
Viel Raum nimmt die Außenpolitik ein. Auch weltweit wird genau beobachtet, welchen Kurs die neue Regierung nach der Ära Merkel einschlägt. Gefragt nach dem russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine, zeigt Scholz sich besorgt. „Deshalb muss ganz, ganz klar sein, dass das eine inakzeptable Situation wäre, wenn da eine Bedrohung entstünde für die Ukraine“, sagt er. Deshalb sei man „sehr, sehr klar“.
Entstünde? Der Konjunktiv mag verwundern. Schließlich soll Russland bereits Vorbereitungen für einen Angriff auf die Ukraine getroffen haben, der Nato-Militärausschuss befasste sich damit, von US-Seite ist von Plänen Russlands „für bedeutende aggressive Schritte gegen die Ukraine“die Rede. Scholz verweist auf die Unverletzlichkeit und Unverletzbarkeit der Grenzen. „Es ist ganz, ganz wichtig, dass niemand in den Geschichtsbüchern wälzt, um Grenzen neu ziehen zu können.“