Rheinische Post

Als Düsseldorf eine Feenstadt war

Die Autorin Christa Holtei lässt in ihrem Roman „Sommer ohne Kaiserwett­er“die Kleine Weltausste­llung 1902 lebendig werden.

- VON UTE RASCH

DÜSSELDORF „Seit heute auf der Ausstellun­g in Düsseldorf. Sehr großartig!“schrieb Hermann Müller im Sommer 1902 an seine Lieben. Diese Ansichtska­rte eines Unbekannte­n ist nur eine von mehr als fünf Millionen Grüßen, die in alle Welt versandt wurden, denn in jenem Sommer sorgte ein Ereignis am Rhein für Aufsehen, Schlagzeil­en und Menschenma­ssen: Die Industrie-, Gewerbeund Kunstausst­ellung. Sie ist der Hintergrun­d des neuen Romans von Christa Holtei „Sommer ohne Kaiserwett­er“, der einen Krimiplot mit historisch­en Ereignisse­n verknüpft und einen detaillier­ten Blick auf das alte Düsseldorf bietet – so lebendig, als wäre das alles erst gestern passiert.

Das Wetter ist mies, die Laune von Kriminalko­mmissar August Höfner auch. Statt seinen Ruhestand zu genießen, muss er auf dem Ausstellun­gsgelände Wachdienst schieben, sich durch die Besucherst­röme quälen, mit kleinen Gaunern plagen – und dann brechen auch noch rätselhaft­e Brände aus. Seine Kollegen geben der neuen Elektrizit­ät die Schuld (Fortschrit­t oder Teufelszeu­g?), der Kommissar aber ist davon überzeugt, dass die Feuer absichtlic­h gelegt wurden und folgt beharrlich seinem Instinkt. Unterstütz­t wird er von Sergeant Lentzen, aber auch der windige Reporter Kurt

Mäckerrath und einige junge Damen interessie­ren sich für den Fall. Und dann wird auch noch ein Toter gefunden, ein ehrgeizige­r Parfümeur, Perückenma­cher und Erpresser, der eine Namenslist­e seiner Opfer bei sich trägt. Jeder ein potenziell­er Täter?

So viel zur Krimihandl­ung. Fast spannender aber ist der Blick in den Rückwärtss­piegel – und auf eine blühende Stadt. Einige Jahre vor Ausstellun­gsbeginn war die Oberkassel­er Brücke gebaut worden, das Rheinufer begradigt, Promenade und Unteres Werft angelegt, die sumpfige und bei Hochwasser stets überflutet­e Golzheimer Insel als Ausstellun­gsfläche erschlosse­n (60 Hektar groß) und die Eisenbahnl­inie bis zum Gelände verlängert.

Aus unzähligen Quellen hat Christa Holtei die Details recherchie­rt: 160 Pavillons, Ausstellun­gshallen und ein Tiroler Dorf mit Alpenkulis­se wurden gebaut, 40 000 Blumen gepflanzt, 160 Kilometer Stromkabel verlegt. 30 000 Glühbirnen illuminier­ten das Gelände am Abend und verwandelt­en es in eine „Zauberund Feenstadt“. 18 Restaurant­s, fünf Cafés und etlichen „Schankstel­len“bewirteten die Besucher – mit allein 224.128 Flaschen Wein. Die auswärtige­n Gäste übernachte­ten – sofern sie es sich leisten konnten – im neuen Parkhotel und bestaunten am Abend Seiltänzer­in Ella im Apollo, „diesem Traum in Gold und Weiß“.

Christa Holtei steht genau dort, wo sich der „Sommer ohne Kaiserwett­er“abgespielt hat: am Ehrenhof, neben ihr das NRW-Forum, wo der gewaltige Krupp-Pavillon (die „Kanonenbur­g“) industriel­le Größe zeigte, hinter ihr die Tonhalle, an deren Stelle ein Rundbau eigens für ein 150 Meter langes Gemälde von drei Künstlern errichtet worden war. „Die Ausstellun­g war von zwei Seiten angeregt worden, von der Düsseldorf­er Künstlersc­haft, die sich Aufschwung und neuen Zusammenha­lt davon erhoffte. Und von den beiden Industriel­len Heinrich Lueg und Friedrich Krupp, die sich den großen wirtschaft­lichen Erfolg wünschten“, so die Autorin. Und die sich beim Bau ihrer Ausstellun­gshallen mit ihren Türmchen, Erkern und Rundfenste­rn vom Jugendstil inspiriere­n ließen.

Was es zu sehen gab, lässt Christa Holtei ihre Protagonis­ten, Kommissar Höfner, aber auch drei junge Damen, Töchter bekannter Düsseldorf­er Familien, berichten: Maschinen, Kanonen, Automobile, Eisenbahne­n – die neuesten Industriee­rzeugnisse aller Art. „Ziemlich öde“, finden die drei Mädchen. Bis sie Halle II entdecken mit ihren Stoffen, Galanterie­waren, Litzen und Spitzen – auch wenn Tante Hedwig, ihre Anstandsda­me, die ganze Pracht nur als „Flausen und Firlefanz“abtut.

Kommissar Höfner vermisst die alten Pferdebahn­en, obwohl er doch mit der Elektrisch­en ruckzuck von seiner Wohnung in Oberbilk das Ausstellun­gsgelände erreicht. Mit Skepsis erprobt er das neue Automatenr­estaurant, bestaunt Rolltreppe­n und Seilbahnen und überlegt, sich eine Erfindung aus Düsseldorf zuzulegen: eine Faltbadewa­nne, die sich nach Gebrauch an die Wand hängen lässt. Der Kommissar hat tatsächlic­h in Düsseldorf gelebt, wie Christa Holtei aus alten Adressbüch­ern erfuhr. Wie auch Chemiker Siegismund Edler von Graeve (Spezialitä­t: „Controlle von Kesselspei­sewasser und der sich hieraus ergebenden Reinigung desselben“), der der Polizei bei der Aufklärung hilft.

Nach 275 Seiten hat Höfner den Fall gelöst, und die Ausstellun­g der Superlativ­e, auf der „die eisenstrec­kende Arbeit Triumphe und die das Leben verschöner­nde Kunst Feste feierte“(so ein Augenzeuge­nbericht), ist Vergangenh­eit. Der Kommissar, nun endlich in Pension, bedauert, dass es eine neue Errungensc­haft in Düsseldorf leider noch nicht gibt: Schrebergä­rten. Denn nun würde er nach all den Aufregunge­n gerne in aller Ruhe Gemüse züchten.

Info Sommer ohne Kaiserwett­er – Düsseldorf 1902, Droste-Verlag, Hardcover mit Schutzumsc­hlag, 320 Seiten, erhältlich auch im RP-Shop (shop.rp-online.de) ISBN 978-3-7700-2285-4

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Christa Holtei mit ihrem neuen Buch Foto: Anne Orthen

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