Olaf Scholz ist Bundeskanzler
Nach 16 Jahren löst der Sozialdemokrat Angela Merkel ab. Bei der Wahl im Bundestag bekommt er nicht alle Stimmen der Ampelkoalition. Für Merkel gibt es Ovationen. Über einen Tag, der Deutschland verändert.
Um 10.17 Uhr endet die Ära Angela Merkel und beginnt die Kanzlerschaft von Olaf Scholz. Auf der Ehrentribüne macht Merkel noch einmal ihre weltberühmte Raute. Dann erhebt sie sich und klatscht für ihren Nachfolger. Den Rekord der längsten Kanzlerschaft von Helmut Kohl verpasst sie nach 16 Jahren um zehn Tage. Sie wird es verschmerzen. Scholz winkt. Er hat es geschafft.
Der Sozialdemokrat ist der neunte Nachkriegskanzler und der vierte der SPD. 16 Jahre mussten die Sozialdemokraten auf die Macht warten. Willy Brandt schrieb mit Ostpolitik und Kniefall in Warschau Geschichte. Helmut Schmidt, Scholz' großes Vorbild und wie er Hamburger, führte das Land durch dunkle Zeiten des RAF-Terrors. Gerhard Schröder sagte Nein zum Irak-Krieg, war der Vater der Hartz-Reformen.
Was wartet auf Scholz, wie groß wird sein Fußabdruck als Regierungschef der ersten Dreierkoalition auf Bundesebene ausfallen? Bei der Übergabe im Kanzleramt dankt Scholz seiner Vorgängerin: „Sie haben dieses Land geprägt, diese Regierung und dieses Haus.“Scholz verspricht den Mitarbeitern Kontinuität – zumindest was die „nordostdeutsche Mentalität“angeht: „So viel wird sich da nicht ändern.“
Der frühere Hamburger Bürgermeister und bisherige Bundesfinanzminister startet in unruhigen Zeiten. Am Morgen der Kanzlerwahl meldet das Robert-Koch-Institut 527 neue Corona-Tote. Die vierteWelle erwischte die AmpelParteien SPD, Grüne und FDP während der Koalitionsverhandlungen kalt. Scholz schwieg lange, steuerte dann beherzt um, eine neue Bundesnotbremse kommt. Er ist nun für eine allgemeine Impfpflicht, die im Frühjahr eingeführt werden soll. In Ostdeutschland scheint das eine Radikalisierung von Querdenkern und rechten Gruppen zu befeuern. In Sachsen zog ein Mob mit Fackeln vor das Haus der Landesgesundheitsministerin, gegen Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gibt es Morddrohungen. In Schwerin wurden Impfgegner auf dem Weg zum Privathaus von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) in letzter Minute von der Polizei gestoppt.
Auch außenpolitisch ist die Welt in Aufruhr. Zwischen Russland und der Ukraine herrscht Kriegsgefahr. Eine 100-Tage-Schonfrist bekommt der Kanzler nicht. Im März wird im Saarland gewählt, der erste Ampel-Test. Im Mai folgt NRW. Zugute kommt Scholz seine große politische Erfahrung. Merkel wurde mit 51 Kanzlerin, Kohl mit 52, Schröder mit 54. Scholz ist jetzt 63 Jahre alt. „Wer Führung will, bekommt sie auch“, sagte er einst in Hamburg. Seine erste Auslandsreise führt ihn am Freitag nach Paris und Brüssel.
Eine Duisburgerin verkündet das Ergebnis der Kanzlerwahl: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas verliest, dass 395 Abgeordnete für den Sozialdemokraten gestimmt haben. Das reicht locker, die nötige Kanzlermehrheit liegt bei 369 Stimmen. Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP hat zwar 416 Mandate, krankheitsbedingt fehlen sechs Abgeordnete. Es gibt also Abweichler. Alle Fraktionen erheben sich und applaudieren – bis auf die AfD-Abgeordneten. Die bleiben schon sitzen, als Merkel mit Standing Ovations gedankt wird. Einzelne AfD-Vertreter müssen oben auf einer „Corona-Strafbank“Platz nehmen. Sie lehnen die 3G-Regeln im Bundestag ab. Auf Schloss Bellevue überreicht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinem Parteifreund die Ernennungsurkunde: „Die Welt schaut auf unser Land, die Erwartungen an Deutschland sind groß.“Danach fährt Scholz zurück in den Bundestag, wo er vereidigt wird. Er nimmt seine Corona-Maske ab, die deutliche Abdrücke im Gesicht hinterlassen hat. Wie erwartet verzichtet er auf die Formel „So wahr mir Gott helfe“. Scholz ist getauft, aber aus der Evangelischen Kirche ausgetreten.
Nicht im Merkel-Block, sondern auf einer Tribüne daneben sitzt Altkanzler Gerhard Schröder zusammen mit seiner Ehefrau Soyeon Schröder-Kim. „Ich traue Olaf Scholz zu, das hinzubekommen“, lobt Schröder. Bei der grünen Außenministerin Annalena Baerbock habe er Bauchschmerzen. Sie will klare Kante gegen China und Russland zeigen. Außenpolitik nach dem Motto „Am grünen Wesen soll die Welt genesen“werde nicht funktionieren, lobbyiert der Putin-Freund später in der Bundestagslobby.
Neben Schröder sitzt Britta Ernst, die Kanzlerfrau und Brandenburger Bildungsministerin. Olaf Scholz spricht öffentlich nicht gern über sein Privatleben, über seine getrennt lebenden Eltern ist nichts bekannt. Jetzt sind Gerhard und Christel Scholz da, ebenso die beiden Brüder von Scholz. „Ich bin stolz auf meine drei Söhne, und der Älteste wird jetzt der Größte“, sagt der Vater. Olaf habe schon mit etwa zwölf Jahren Kanzler werden wollen. „Er hat sich dieses Ziel sehr früh gesetzt, da war er noch Schüler“, erzählt der 86-Jährige stolz. Vater Scholz war Geschäftsführer eines Textilunternehmens. Sein Sohn sei von klein auf sehr begabt gewesen: „Olaf hat nie in seinem Leben lernen müssen. Er hat es sich angeguckt und es gewusst.“Ferien vorm Abi? Brauchte Scholz nicht, er lernte lieber für die Französisch-Prüfung. Latein? „Da war er so gut, da konnte der Lehrer von ihm lernen.“
Im Plenum hebt Bas unter Jubel der Parlamentarier das Fotoverbot auf – freie Bahn für Selfies. Schier endlos ist die Schlange der Gratulanten. Neben Blumensträußen bekommt Scholz vom einzigen Abgeordneten der dänischen Minderheit ein Körbchen mit Bio-Äpfeln. NRWMinisterpräsident Hendrik Wüst bittet einen Mitarbeiter, ein Foto von ihm mit Scholz zu machen. Auch Armin Laschet gratuliert dem Kanzler. Für ihn muss es ein sehr bitterer Moment sein. Als haushoher Favorit gestartet, verlor der NochCDU-Chef nach einem pannenreichen Wahlkampf alles. Laschet will nun als einfacher Abgeordneter bis 2025 weitermachen. Dann will Olaf Scholz wiedergewählt werden. Sagt er jedenfalls. Bis dahin liegt vor ihm noch eine lange Reise.