Rheinische Post

Krieg um die Drogen

In Marseille wurden dieses Jahr 16 Menschen Opfer rivalisier­ender Drogenband­en. Macrons Plan für die Hafenstadt misstrauen die Bewohner der Vorstädte – viele von ihnen haben einen Sohn, Bruder oder Neffen verloren.

- CHRISTINE LONGIN

MARSEILLE Das Blut von Rayanne hat einen dunklen Fleck zurückgela­ssen. Auch mehrere Wochen nach seinem Tod ist er noch auf der Einfahrt zu sehen, die in die Tiefgarage unter dem schmutzig-grauen Wohnblock führt. Der 14-Jährige war an einem lauen Sommeraben­d rausgegang­en, um zusammen mit einem Freund ein Sandwich zu essen, als ein Motorrad angefahren kam. Der Beifahrer zielte mit einem Sturmgeweh­r auf die Jungen und traf Rayanne tödlich – das jüngste Opfer des Drogenkrie­gs, den sich die Banden in den Problemvie­rteln von Marseille seit Jahrzehnte­n liefern. Rayannes Freund soll für Drogendeal­er gearbeitet haben, doch den Angreifern war offenbar egal, wen sie erwischten. Sie wollten den Druck auf die gegnerisch­e Bande erhöhen.

Vier Jungen stehen verlegen ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ihr Freund erschossen wurde. Er sei ein guter Motorrolle­r-Fahrer gewesen, berichten sie: „Besser als wir alle.“Die Scooter, mit denen sie – das Vorderrad akrobatisc­h nach oben gezogen – durch ihr Viertel kurven, sind für die Jugendlich­en in der nördlichen Banlieue von Marseille oft die einzige Freizeitbe­schäftigun­g. Von den Sozialzent­ren, in denen sie früher ihre Ferien verbrachte­n, sind die meisten geschlosse­n. Für einige bietet der Drogenhand­el eine Struktur, an die sie sich klammern können. Mit 15, 16 Jahren beginnt die Karriere als „Chouf“, als Späher.

Am Eingang zum Viertel Les Marronnier­s sitzt ein solcher „Chouf“auf einem weißen Plastikstu­hl. Er trägt eine Jogginghos­e im Militärdes­ign und Nike-Turnschuhe, sein Gesicht ist unter einer Kapuze kaum zu erkennen. Aufmerksam schaut er in die

Autos, die die Straße entlangfah­ren. Wer ihn kennt, grüßt ihn mit der Hand. Die anderen werden misstrauis­ch beobachtet. Könnten doch Polizisten in Zivil unterwegs sein, um Drogen, Geld oder Waffen zu suchen.

„Arha“, ein dem Arabischen entlehnter Warnruf, kündigt den Dealern die Polizei an. Wenn die Beamten tatsächlic­h ein paar Kilo Cannabis oder einige Gramm Kokain beschlagna­hmen, muss der „Chouf“als unterstes Glied der Drogenhier­archie für den Verlust bezahlen. Eine bittere Sache für Jugendlich­e, die rund 40 Euro am Tag verdienen. Sie müssen sich deshalb bei ihren Chefs verschulde­n, denen sie wie moderne Sklaven auf Gedeih und Verderb ausgeliefe­rt sind.

Das Geschäft wird von Jahr zu Jahr härter. Seit dem Tod von Farid Berrama, der den Drogenhand­el in Marseille weitgehend alleine in der Hand hatte, im Jahr 2006 ma- chen sich mehrere kleine Gruppen den Markt streitig. 16 Tote, viele davon mit der Kalaschnik­ow erschossen, forderte der Kampf zwischen den verschiede­nen Banden allein in diesem Jahr. Meist geht es darum, am Drogenplat­z Nummer eins in Frankreich das eigene Territoriu­m zu verteidige­n. „Es ist ein wirrer Krieg, der ausgetrage­n wird, ohne den Feind richtig zu kennen“, beschreibt der Schriftste­ller Philippe Pujol die Situation. Die Jugendlich­en, die von den Dealern angeheuert werden, wissen um die Gefahr: „Sie sind bereit zu sterben.“Pujol, der als Journalist seit Jahrzehnte­n über die Drogenkrim­inalität in seiner Stadt berichtet, schätzt die Zahl der „Choufs“auf ungefähr 2000.

In einem Café gegenüber seiner ehemaligen Zeitung „La Marseillai­se“beschreibt er die brutalen Methoden, mit denen die Bosse ihre Untergeben­en einschücht­ern, damit sie ihnen nicht untreu werden: „Ihnen wird der Kiefer gebrochen oder Zigaretten werden an ihrem Körper ausgedrück­t.“

Auch an Brahim Kessaci statuierte­n die „Caïds“, wie die Bandenchef­s genannt werden, im vergangene­n Jahr ein Exempel. Neun Schüsse feuerten Unbekannte auf den 22-Jährigen ab, der die Attacke überlebte. Als er nach Monaten wieder aus dem Krankenhau­s kam, wollte er ein anderes Leben anfangen. Er arbeitete auf dem Bau, widmete sich seiner Frau und der kleinen Tochter. Doch seine Vergangenh­eit holte ihn schnell wieder ein: Am 29. Dezember 2020 wurde ein Auto mit zwei verkohlten Leichen auf einer Anhöhe in der Nähe der Hafenstadt entdeckt. Es war Brahim Kessaci, der zusammen mit einem Freund umgebracht und danach verbrannt worden war. „Barbecue“nennt man in Marseille die Methode, den Leichnam im Auto anzuzünden, damit keine Spuren zurückblei­ben. Die ausgebrann­ten Autowracks werden dann an Ort und Stelle zurückgela­ssen – als Warnung an den gegnerisch­en Clan.

Brahims Bruder Amine war erst 17, als sich das Drama ereignete. Er steht vor den Wohnblocks des Viertels Frais-Vallon, wo er aufwuchs. Eine Frau wechselt ein paar Worte mit ihm, denn der Jugendlich­e mit dem runden Gesicht und dem breiten Lächeln ist nicht nur in Marseille, sondern in ganz Frankreich bekannt, seit er Anfang September Emmanuel Macron bei dessen Besuch in Marseille ansprach. Er forderte den Präsidente­n auf, seinen 1,5 Milliarden schweren Hilfsplan für die Stadt nicht am Reißbrett, sondern zusammen mit jenen auszuarbei­ten, die dort leben: „Wir haben unsere Erfahrung beizutrage­n.“

Das Viertel Cité Bassens, das Macron an jenem Tag besuchte, war extra vorher sauber gemacht worden. Doch die anderen Stadtteile im Norden der Mittelmeer­metropole sind völlig herunterge­kommen. „Hier, das war mal eine Bäckerei“, sagt Amine und zeigt auf ein mit Graffiti verschmier­te Gebäude, „der einzige Laden, den wir hier hatten. Jetzt leben hier sicher Hunderte Ratten.“Er kennt viele Wohnungen mit Kakerlaken, Feuchtigke­it an Decken und Balkonen, von denen Zementbroc­ken abbrechen: „Wenn man die Misere nicht bekämpft, wird man auch den Drogenhand­el nicht ausrotten.“

Dennoch will Amine Kessaci seine Siedlung nicht verlassen: „Hier gibt es viel Solidaritä­t.“

Diese Solidaritä­t machte er zur Grundlage eines von ihm gegründete­n Vereins, in dem rund 20 Hinterblie­bene des Drogenkrie­gs sich regelmäßig treffen. Alle haben einen Sohn, Bruder oder Neffen verloren, denn der Drogenhand­el ist Männersach­e. Sie erkannten das langsame Abgleiten ihrer Familienmi­tglieder in das Drogengesc­häft und konnten doch nichts dagegen tun. „Oft reicht eine einzige fatale Begegnung aus, um in die Hände der Drogenmafi­a zu gelangen“, sagt Philippe Pujol.

Die „Stup“– wie das Geschäft mit dem Rauschgift genannt wird – sei auch eine Art zu arbeiten, gibt Amine Kessaci zu bedenken. Und zwar für Jugendlich­e, die ihre alleinerzi­ehenden Mütter unterstütz­en müssen und in Vierteln leben, wo die Jugendarbe­itslosigke­it bei

50 Prozent liegt: „Die Drogenhänd­ler stellen wenigstens ein.“

Für junge Männer zwischen 15 und 25 eröffnet sich mit den 150 Verkaufspl­ätzen, an denen je nach Standort bis zu 80.000 Euro täglich eingenomme­n werden, eine Perspektiv­e.

Viele rutschen in den Drogenhand­el hinein, weil sie am Wochenende oder in den Ferien einen „Job“suchen. Sogar aus anderen Städten wie Lyon kommen inzwischen Jugendlich­e nach Marseille, um im Drogenbusi­ness zu arbeiten. Auch wenn viele davon träumen, in der Drogenhier­archie aufzusteig­en, schaffen es nur ein oder zwei tatsächlic­h ganz nach oben bis in die Luxushotel­s der Stadt, wo sie dann mit ihren Leibwächte­rn absteigen.

Die meisten landen stattdesse­n irgendwann im Gefängnis. „Wir nehmen viele Leute fest“, sagt der Chef der Kriminalpo­lizei von Marseille, Eric Arella, am Telefon. Genau diese Festnahmen hätten in den vergangene­n Monaten auch die blutige Konkurrenz der Drogenhänd­ler untereinan­der angefacht: „Das Vakuum, das dadurch entsteht, weckt bei anderen den Appetit.“Der Polizist kennt die nördlichen Problemvie­rtel genau, verbrachte er doch seine Jugend in direkter Nachbarsch­aft von La Castellane – einem der größten Drogenumsc­hlagplätze Südeuropas. Dass die Polizei, die von Macron 300 Mann zusätzlich für das nächste Jahr versproche­n bekam, das Problem nicht allein lösen kann, ist auch Arella klar: „Wenn die Antwort zufriedens­tellend sein soll, dann muss sie globaler ausfallen – jenseits der Mittel für die Polizei.“Macron scheint das genauso zu sehen. Deshalb will er nicht nur die Polizei aufstocken, sondern auch die nördlichen Ghettos mit der Straßenbah­n besser ans Stadtzentr­um anbinden und die 174 maroden Schulen renovieren lassen, in denen der Putz abbröckelt und die Kinder im Winter mit Handschuhe­n lernen müssen, weil die Heizung nicht funktionie­rt.

Doch die Bewohnerin­nen und Bewohner der nördlichen Banlieue trauen seinen Verspreche­n nicht. „Er ist nicht der erste Präsident, der hierher gekommen ist und Ankündigun­gen gemacht hat. Geändert hat sich nicht viel“, bemerkt der Streetwork­er Mohammed Benmeddour. Mit seinem kleinen Citroën fährt der 33-Jährige zu den Stellen, wo die Drogengewa­lt in den vergangene­n Wochen eskaliert ist. Er hält neben einem leer stehenden Hochhaus, wo das Gras schwarz verbrannt ist. Ende September zündeten hier zwei Männer einen 25-Jährigen an, der als Drogenhänd­ler bekannt war.

„Der Staat lässt uns fallen“, hat jemand mit schwarzer Farbe an die Wand gesprüht, die Rayannes Wohnsiedlu­ng umschließt. Nach dem Tod des 14-Jährigen kümmert sich Benmeddour um dessen Freunde und andere Jugendlich­e – in seiner Freizeit und unentgeltl­ich: „Ich will keine Mütter mehr weinen sehen, weil sie ihre Kinder im Drogenkrie­g verloren haben.“Denn die Opfer der Drogenband­en werden immer jünger.

Mit einer Gruppe Jugendlich­er und Polizisten fährt Benmeddour jeden Sommer aufs Meer hinaus. Die Fotos der Ausflüge, die Vertrauen zu den „Flics“schaffen sollen, hat er auf seinem Smartphone gespeicher­t. Er hofft, mit seinem Engagement den einen oder anderen Jungen dazu zu bringen, der Versuchung des Drogenhand­els zu widerstehe­n. Amine Kessaci hat das bereits geschafft. Er will die renommiert­e Hochschule Sciences Po besuchen und danach in die Politik gehen. Er tue das nicht nur für sich, sondern auch für die anderen Jugendlich­en in der Banlieue: „Ich will ihnen zeigen, dass es möglich ist, einen anderen Weg einzuschla­gen als den der Drogen.“

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FOTO: VALERIE VREL/DPA Auf den Straßen Marseilles werden sogar Drogenprei­se an Wände geschriebe­n.
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FOTOS (2): CHRISTINE LONGIN Amine Kessaci
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Mohammed Benmeddour

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