Krieg um die Drogen
In Marseille wurden dieses Jahr 16 Menschen Opfer rivalisierender Drogenbanden. Macrons Plan für die Hafenstadt misstrauen die Bewohner der Vorstädte – viele von ihnen haben einen Sohn, Bruder oder Neffen verloren.
MARSEILLE Das Blut von Rayanne hat einen dunklen Fleck zurückgelassen. Auch mehrere Wochen nach seinem Tod ist er noch auf der Einfahrt zu sehen, die in die Tiefgarage unter dem schmutzig-grauen Wohnblock führt. Der 14-Jährige war an einem lauen Sommerabend rausgegangen, um zusammen mit einem Freund ein Sandwich zu essen, als ein Motorrad angefahren kam. Der Beifahrer zielte mit einem Sturmgewehr auf die Jungen und traf Rayanne tödlich – das jüngste Opfer des Drogenkriegs, den sich die Banden in den Problemvierteln von Marseille seit Jahrzehnten liefern. Rayannes Freund soll für Drogendealer gearbeitet haben, doch den Angreifern war offenbar egal, wen sie erwischten. Sie wollten den Druck auf die gegnerische Bande erhöhen.
Vier Jungen stehen verlegen ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ihr Freund erschossen wurde. Er sei ein guter Motorroller-Fahrer gewesen, berichten sie: „Besser als wir alle.“Die Scooter, mit denen sie – das Vorderrad akrobatisch nach oben gezogen – durch ihr Viertel kurven, sind für die Jugendlichen in der nördlichen Banlieue von Marseille oft die einzige Freizeitbeschäftigung. Von den Sozialzentren, in denen sie früher ihre Ferien verbrachten, sind die meisten geschlossen. Für einige bietet der Drogenhandel eine Struktur, an die sie sich klammern können. Mit 15, 16 Jahren beginnt die Karriere als „Chouf“, als Späher.
Am Eingang zum Viertel Les Marronniers sitzt ein solcher „Chouf“auf einem weißen Plastikstuhl. Er trägt eine Jogginghose im Militärdesign und Nike-Turnschuhe, sein Gesicht ist unter einer Kapuze kaum zu erkennen. Aufmerksam schaut er in die
Autos, die die Straße entlangfahren. Wer ihn kennt, grüßt ihn mit der Hand. Die anderen werden misstrauisch beobachtet. Könnten doch Polizisten in Zivil unterwegs sein, um Drogen, Geld oder Waffen zu suchen.
„Arha“, ein dem Arabischen entlehnter Warnruf, kündigt den Dealern die Polizei an. Wenn die Beamten tatsächlich ein paar Kilo Cannabis oder einige Gramm Kokain beschlagnahmen, muss der „Chouf“als unterstes Glied der Drogenhierarchie für den Verlust bezahlen. Eine bittere Sache für Jugendliche, die rund 40 Euro am Tag verdienen. Sie müssen sich deshalb bei ihren Chefs verschulden, denen sie wie moderne Sklaven auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.
Das Geschäft wird von Jahr zu Jahr härter. Seit dem Tod von Farid Berrama, der den Drogenhandel in Marseille weitgehend alleine in der Hand hatte, im Jahr 2006 ma- chen sich mehrere kleine Gruppen den Markt streitig. 16 Tote, viele davon mit der Kalaschnikow erschossen, forderte der Kampf zwischen den verschiedenen Banden allein in diesem Jahr. Meist geht es darum, am Drogenplatz Nummer eins in Frankreich das eigene Territorium zu verteidigen. „Es ist ein wirrer Krieg, der ausgetragen wird, ohne den Feind richtig zu kennen“, beschreibt der Schriftsteller Philippe Pujol die Situation. Die Jugendlichen, die von den Dealern angeheuert werden, wissen um die Gefahr: „Sie sind bereit zu sterben.“Pujol, der als Journalist seit Jahrzehnten über die Drogenkriminalität in seiner Stadt berichtet, schätzt die Zahl der „Choufs“auf ungefähr 2000.
In einem Café gegenüber seiner ehemaligen Zeitung „La Marseillaise“beschreibt er die brutalen Methoden, mit denen die Bosse ihre Untergebenen einschüchtern, damit sie ihnen nicht untreu werden: „Ihnen wird der Kiefer gebrochen oder Zigaretten werden an ihrem Körper ausgedrückt.“
Auch an Brahim Kessaci statuierten die „Caïds“, wie die Bandenchefs genannt werden, im vergangenen Jahr ein Exempel. Neun Schüsse feuerten Unbekannte auf den 22-Jährigen ab, der die Attacke überlebte. Als er nach Monaten wieder aus dem Krankenhaus kam, wollte er ein anderes Leben anfangen. Er arbeitete auf dem Bau, widmete sich seiner Frau und der kleinen Tochter. Doch seine Vergangenheit holte ihn schnell wieder ein: Am 29. Dezember 2020 wurde ein Auto mit zwei verkohlten Leichen auf einer Anhöhe in der Nähe der Hafenstadt entdeckt. Es war Brahim Kessaci, der zusammen mit einem Freund umgebracht und danach verbrannt worden war. „Barbecue“nennt man in Marseille die Methode, den Leichnam im Auto anzuzünden, damit keine Spuren zurückbleiben. Die ausgebrannten Autowracks werden dann an Ort und Stelle zurückgelassen – als Warnung an den gegnerischen Clan.
Brahims Bruder Amine war erst 17, als sich das Drama ereignete. Er steht vor den Wohnblocks des Viertels Frais-Vallon, wo er aufwuchs. Eine Frau wechselt ein paar Worte mit ihm, denn der Jugendliche mit dem runden Gesicht und dem breiten Lächeln ist nicht nur in Marseille, sondern in ganz Frankreich bekannt, seit er Anfang September Emmanuel Macron bei dessen Besuch in Marseille ansprach. Er forderte den Präsidenten auf, seinen 1,5 Milliarden schweren Hilfsplan für die Stadt nicht am Reißbrett, sondern zusammen mit jenen auszuarbeiten, die dort leben: „Wir haben unsere Erfahrung beizutragen.“
Das Viertel Cité Bassens, das Macron an jenem Tag besuchte, war extra vorher sauber gemacht worden. Doch die anderen Stadtteile im Norden der Mittelmeermetropole sind völlig heruntergekommen. „Hier, das war mal eine Bäckerei“, sagt Amine und zeigt auf ein mit Graffiti verschmierte Gebäude, „der einzige Laden, den wir hier hatten. Jetzt leben hier sicher Hunderte Ratten.“Er kennt viele Wohnungen mit Kakerlaken, Feuchtigkeit an Decken und Balkonen, von denen Zementbrocken abbrechen: „Wenn man die Misere nicht bekämpft, wird man auch den Drogenhandel nicht ausrotten.“
Dennoch will Amine Kessaci seine Siedlung nicht verlassen: „Hier gibt es viel Solidarität.“
Diese Solidarität machte er zur Grundlage eines von ihm gegründeten Vereins, in dem rund 20 Hinterbliebene des Drogenkriegs sich regelmäßig treffen. Alle haben einen Sohn, Bruder oder Neffen verloren, denn der Drogenhandel ist Männersache. Sie erkannten das langsame Abgleiten ihrer Familienmitglieder in das Drogengeschäft und konnten doch nichts dagegen tun. „Oft reicht eine einzige fatale Begegnung aus, um in die Hände der Drogenmafia zu gelangen“, sagt Philippe Pujol.
Die „Stup“– wie das Geschäft mit dem Rauschgift genannt wird – sei auch eine Art zu arbeiten, gibt Amine Kessaci zu bedenken. Und zwar für Jugendliche, die ihre alleinerziehenden Mütter unterstützen müssen und in Vierteln leben, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei
50 Prozent liegt: „Die Drogenhändler stellen wenigstens ein.“
Für junge Männer zwischen 15 und 25 eröffnet sich mit den 150 Verkaufsplätzen, an denen je nach Standort bis zu 80.000 Euro täglich eingenommen werden, eine Perspektive.
Viele rutschen in den Drogenhandel hinein, weil sie am Wochenende oder in den Ferien einen „Job“suchen. Sogar aus anderen Städten wie Lyon kommen inzwischen Jugendliche nach Marseille, um im Drogenbusiness zu arbeiten. Auch wenn viele davon träumen, in der Drogenhierarchie aufzusteigen, schaffen es nur ein oder zwei tatsächlich ganz nach oben bis in die Luxushotels der Stadt, wo sie dann mit ihren Leibwächtern absteigen.
Die meisten landen stattdessen irgendwann im Gefängnis. „Wir nehmen viele Leute fest“, sagt der Chef der Kriminalpolizei von Marseille, Eric Arella, am Telefon. Genau diese Festnahmen hätten in den vergangenen Monaten auch die blutige Konkurrenz der Drogenhändler untereinander angefacht: „Das Vakuum, das dadurch entsteht, weckt bei anderen den Appetit.“Der Polizist kennt die nördlichen Problemviertel genau, verbrachte er doch seine Jugend in direkter Nachbarschaft von La Castellane – einem der größten Drogenumschlagplätze Südeuropas. Dass die Polizei, die von Macron 300 Mann zusätzlich für das nächste Jahr versprochen bekam, das Problem nicht allein lösen kann, ist auch Arella klar: „Wenn die Antwort zufriedenstellend sein soll, dann muss sie globaler ausfallen – jenseits der Mittel für die Polizei.“Macron scheint das genauso zu sehen. Deshalb will er nicht nur die Polizei aufstocken, sondern auch die nördlichen Ghettos mit der Straßenbahn besser ans Stadtzentrum anbinden und die 174 maroden Schulen renovieren lassen, in denen der Putz abbröckelt und die Kinder im Winter mit Handschuhen lernen müssen, weil die Heizung nicht funktioniert.
Doch die Bewohnerinnen und Bewohner der nördlichen Banlieue trauen seinen Versprechen nicht. „Er ist nicht der erste Präsident, der hierher gekommen ist und Ankündigungen gemacht hat. Geändert hat sich nicht viel“, bemerkt der Streetworker Mohammed Benmeddour. Mit seinem kleinen Citroën fährt der 33-Jährige zu den Stellen, wo die Drogengewalt in den vergangenen Wochen eskaliert ist. Er hält neben einem leer stehenden Hochhaus, wo das Gras schwarz verbrannt ist. Ende September zündeten hier zwei Männer einen 25-Jährigen an, der als Drogenhändler bekannt war.
„Der Staat lässt uns fallen“, hat jemand mit schwarzer Farbe an die Wand gesprüht, die Rayannes Wohnsiedlung umschließt. Nach dem Tod des 14-Jährigen kümmert sich Benmeddour um dessen Freunde und andere Jugendliche – in seiner Freizeit und unentgeltlich: „Ich will keine Mütter mehr weinen sehen, weil sie ihre Kinder im Drogenkrieg verloren haben.“Denn die Opfer der Drogenbanden werden immer jünger.
Mit einer Gruppe Jugendlicher und Polizisten fährt Benmeddour jeden Sommer aufs Meer hinaus. Die Fotos der Ausflüge, die Vertrauen zu den „Flics“schaffen sollen, hat er auf seinem Smartphone gespeichert. Er hofft, mit seinem Engagement den einen oder anderen Jungen dazu zu bringen, der Versuchung des Drogenhandels zu widerstehen. Amine Kessaci hat das bereits geschafft. Er will die renommierte Hochschule Sciences Po besuchen und danach in die Politik gehen. Er tue das nicht nur für sich, sondern auch für die anderen Jugendlichen in der Banlieue: „Ich will ihnen zeigen, dass es möglich ist, einen anderen Weg einzuschlagen als den der Drogen.“