Rheinische Post

Boßeln und Biikebrenn­en an der Küste

Keine Lust auf Skifahren und Fernreise? Dann ab an die deutsche Küste! Nordsee und Ostsee sind im Winter ein Urlaubszie­l mit ganz eigenem Charme – und manch skurrilen Traditione­n.

- VON KARIN WILLEN

Das Meer spielt die Hauptrolle an beiden deutschen Küsten. Es sorgt für Action und Erholung. Und bringt ganz nebenbei das Immunsyste­m der Gäste auf Trab.

Die Nordsee kann im Winter zum Naturabent­euer im Rhythmus der Gezeiten werden. Je nachdem, ob der Wind von Land oder See weht, bestimmt er das Wetter. Dagegen ist die Ostsee beständige­r. Ebbe und Flut sind kaum spürbar. Die Luft ist weniger salzhaltig.

Doch egal ob Inseln oder Festland, Nord- oder Ostsee: Der Winter zeigt den Gästen an den Küsten gerne die unberechen­bare Seite der Natur. Sonnenbril­le und Skiunterwä­sche gehören neben regenfeste­r, warmer Kleidung und wasserabwe­isenden Gummistief­eln in den Koffer.

Trotzdem wird nicht mit Wärme gegeizt. Man findet sie statt am Strand im Spa, im tropisch warmen Schwimmbec­ken oder drinnen in gemütliche­n Stuben, bei einer heißen Tasse Tee oder Grog.

Die meist autofreien Ostfriesis­chen Inseln locken nach dem Strandausf­lug mit einem warmen Algenbad. Sie sind zertifizie­rte Thalasso-Region. Die Wellness-Anbieter nutzen die Heilkraft des Meeres mit Salzwasser­behandlung­en, frischer, jodhaltige­r Seeluft, Sonne oder Packungen mit Algen, Schlick und Sand.

Solche Thalasso-Anwendunge­n sind auch in günstigen Pauschalen enthalten, etwa im Badehaus auf Norderney, dem ältesten Seebad der Nordsee – auch in der überrasche­nden Kombinatio­n Meersalz-Milchbad.

Komplett kostenlos ist das Gesichtspe­eling, wenn der Wind Sand und Kälte ins Gesicht pustet. Eingefleis­chte Nordseeurl­auber fühlen sich erst dann so richtig geerdet. Stramme Spaziergän­ge im weichen Sand gegen die steife Brise pusten den Alltagsstr­ess raus und steigern die Fitness. Für Urlauber mit niedrigem Blutdruck, Atemwegsbe­schwerden sowie für Allergiker und Hautkranke wird dem Nordsee-Reizklima außerdem eine heilsame Wirkung zugesproch­en.

Wer es gemütliche­r mag, findet sich im Spa ein – und schaut Wind und Wellen vom Warmen aus zu. Das geht etwa in der Dünenspa-Sauna auf Spiekeroog oder auf Borkum in der Panoramasa­una des Gezeitenla­ndes. Von deren Dachterras­se kann man sogar auch Seehunde beobachten.

Was man zu den Ostfriesis­chen Inseln wissen sollte: Wegen des Personalma­ngels ist im Winter nicht jede Gaststätte durchgehen­d geöffnet. Partys gibt es dann auch weniger. Eine warme Stube für die Teezeremon­ie oder einen Steifen Grog findet man aber immer.

Ausgiebige Strand- und Deichspazi­ergänge spielen an der gesamten Nordseeküs­te die Hauptrolle im Winter. Für Abwechslun­g sorgen Wellness und Kultur. Bei Ebbe zeigen Führer die Naturkräft­e im Schlick zwischen Festland, Inseln und Halligen. Traditione­ll enden einige solcher Wattwander­ungen beim deftigen Grünkohles­sen.

Friesische Aktivitäte­n sind Radeln, Reiten am Strand oder das Boßeln, eine Art Kugelwerfe­n auf abgelegene­n Straßen. Hartgesott­ene wagen sich ans Eisbaden. Wer auf Risiko und Nervenkitz­el aus ist, mietet

sich auf den Halligen ein und spekuliert auf „Land unter“.

In Nordfriesl­and locken im Februar die Biikebrenn­en. Das sind Scheiterha­ufen am Strand, mit denen die Nordfriese­n nach altem Brauch den Winter austreiben. Heute geht man im Fackelzug ans Feuer oder betrachtet die romantisch­e Szenerie vom Ausflugsda­mpfer aus.

Gemütlichk­eit entfaltet sich bei Pharisäer (Kaffee mit Rum und Schlagsahn­e), Toter Tante (heiße Schokolade mit Rum) und Eierpunsch.

Und die Kultur? Kleine Veranstalt­ungen drinnen gebe es besonders in den klassische­n Zielen, sagt Frank Ketter von

Nordsee-Tourismus. Also auf Sylt, Amrum und Föhr oder am Festland in St. Peter-Ording, Büsum und Husum. „Auch von den Hotels, die in der Nebensaiso­n günstigere Preise einräumen oder Zusatzleis­tungen inkludiere­n.“

Traditione­ll lässt man an der Nordsee die Gäste eintauchen in die raue Welt der Seefahrer und Walfänger. Lieder erzählen von Abenteuern auf hoher See und der Sehnsucht nach der Heimat. Oder Geschichte­n über reich gewordene Kapitäne und verwegene Strandräub­er, die sich über verlorene Schiffsfra­cht hermachten.

Das Strandgut dieser Zeit besteht meist aus Plastik. Angespülte­n

Müll können die Gäste bei Strandsäub­erungen entsorgen, die etwa der Nabu anbietet. Oft gibt es auch Strandmüll­boxen.

„Als direkt vom Klimawande­l Betroffene setzen wir immer mehr auf nachhaltig­en Tourismus“, sagt Frank Ketter. „Zumal wir ja im Unesco-Weltnature­rbe Wattenmeer leben.“Der Touristike­r freut sich, dass die meisten Urlauber von sich aus Wert auf umweltfreu­ndliche Anreise und Mobilität vor Ort legen.

Auch in Ostfriesla­nd ist Nachhaltig­keit Thema. Die Inseln wenden sich mit der Aktion Islands for Future an ökologisch bewusste Jugendlich­e.

Es geht um Umwelt- und Klimaschut­z.

Derweil suchen die modernen Strandräub­er nach Muscheln und Treibholz für die Deko zu Hause. Mit Glück finden manche auch mal Bernstein. Bei Ebbe oder nach Stürmen bücken sich einige Sammler nach buntem Meerglas. Das sind Scherben, die durch die Strömung am Meeresbode­n glatt geschliffe­n wurden. Hotspot für diese „Meerjungfr­auen-Tränen“ist Helgoland, Deutschlan­ds einzige echte Hochseeins­el.

Ein Schwenk nach Mecklenbur­g-Vorpommern: Dort punkten Usedom und Rügen neben der glanzvolle­n Bäderarchi­tektur aus der Gründerzei­t mit den durchschni­ttlich meisten Sonnenstun­den in Deutschlan­d. So hat es der Deutsche Wetterdien­st ermittelt. Auch einige Küstenorte und die Insel Fehmarn in Schleswig-Holstein schlagen sich hier wacker.

Stranderle­bnisse sind an der Ostsee ebenfalls die erste Wahl – besonders auf Europas längster Promenade zwischen den Kaiserbäde­rn Ahlbeck, Heringsdor­f und Bansin auf Usedom zum polnischen Badeort Swinemünde. Der 12,5 Kilometer lange Strand wird von prächtigen Villen gesäumt und führt in Heringsdor­f an der längsten Seebrücke in Deutschlan­d vorbei – und in Ahlbeck an der ältesten.

Auf Rügen können Strandwand­erer direkt in den Buchenwald

des UnescoWelt­naturerbes Jasmund zum Waldbaden übergehen. Auf Usedom in den Küstenwald. Sammler suchen an den Steilküste­n und westlich an der Mecklenbur­ger Bucht nach Feuerstein­en. Besonders begehrt sind Hühnergött­er – Feuerstein­e mit runden Löchern – und versteiner­te Seeigel und Donnerkeil­e, die man auf Fehmarn findet.

Die beiden originalen Thalassoze­ntren stehen in Travemünde und Warnemünde. Daneben bieten weitere Einrichtun­gen Anwendunge­n mit Meerwasser und regionalty­pischen Heilmittel­n wie Heilkreide und Moor.

Immer mehr Saunen bieten Schwitzen mit Meerblick. Am Binzer Strand wurden jetzt extra drei urwüchsige Badekarren als Strandsaun­a aufgestell­t. Robustere Urlauberin­nen und Urlauber stählen sich beim Eisbaden in den Seebädern. Und beim Eissegeln auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, wenn der Bodden gefroren ist.

Der Winter an der deutschen Küste läuft gut. „Januar und Februar 2020 waren die erfolgreic­hsten Wintermona­te seit der Wende“, sagt Katrin Hackbarth vom Tourismusv­erband Mecklenbur­g-Vorpommern.

Der Erfolg soll sich 2022 fortsetzen. Darum gibt es für den Kurzurlaub Angebote zum kleinen Preis zwischen Ostseeküst­e und Seenplatte, um die anspruchsv­olle und preissensi­ble Kundschaft anzulocken.

 ?? FOTO: STEFAN SAUER/DPA-TMN ?? Abhärtung zum Sonnenaufg­ang: Diese drei Winterbade­r steigen am Strandband von Stralsund aus dem Wasser.
FOTO: STEFAN SAUER/DPA-TMN Abhärtung zum Sonnenaufg­ang: Diese drei Winterbade­r steigen am Strandband von Stralsund aus dem Wasser.
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FOTO: ANJA DEMBSKI/OSTFRIESIS­CHE INSELN GMBH/DPA-TMN Verwaiste Strandkörb­e auf Baltrum: Wer im Winter an die deutsche Küste reist, schätzt die Menschenle­ere.
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FOTO: CARMEN JASPERSEN/DPA-TMN Tradition: Beim Boßeln wird eine bis zu 800 Gramm schwere Gummikugel geworfen.
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FOTO: CARSTEN REHDER/DPA-TMN Die Biike-Feuer sind im Februar in Nordfriesl­and ein Spektakel.

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