„Es wäre gut, wenn jedes Kind einen Raum für sich hätte“
Der Präsident des Kinderschutzbundes über Versäumnisse in der Pandemie, Strategien gegen Missbrauch, eine Impfpflicht für Kinder und die „wahren Totengräber der Freiheit“.
Herr Hilgers, Sie haben ein Enkelkind. Sollte das lieber am Bildschirm oder auf der Straße spielen? HILGERS Das hat sogar das Glück, im Garten oder bei den anderen Großeltern auf dem Bauernhof zu spielen. Computer, Smartphones und andere Technik sind eine Frage des Alters, aber natürlich können sie auch helfen, spielend zu lernen. Die große Schwierigkeit ist, dass wir den Eltern bei der anleitenden Erziehung in der digitalen Welt oft auch zu viel zumuten.
Und das nicht nur technisch: Gerade der Faktor Wohnraum ist seit der Pandemie zum entscheidenden Punkt in vielen Familien geworden. HILGERS Fernunterricht und Homeoffice haben dazu geführt, dass sich Eltern und Kinder oft nicht nur wenig Wohnraum, sondern auch die Endgeräte teilen mussten – für alle eine riesige Belastung.
Das ist selbst nach knapp zwei Jahren Pandemie Alltag – was tun?
HILGERS Das ist vor allem eine Finanzfrage, die die neue Bundesregierung zum Glück auch angeht. Die Einführung der Kindergrundsicherung ist ein großer Schritt im Kampf gegen Kinderarmut, die ja oft Kinder erwerbstätiger Eltern trifft. Auch die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde wird einen Teil dazu beitragen, dass Familien nicht unter dem Existenzminimum leben.
Kann man damit dann jedem Kind ein Zimmer finanzieren?
HILGERS Es wäre gut, wenn jedes Kind einen Raum für sich hätte, und auf Dauer wird sich die große Not an bezahlbarem Wohnraum verringern – auch ein großes Projekt der Ampelkoalition. Im Moment findet viel Verdrängung in prekäre Wohnlagen statt.
Was vermissen Sie bei den familienpolitischen Plänen der Regierung?
HILGERS In der Bildungspolitik vermisse ich konkrete Pläne aus den Lehren der Corona-Pandemie. Es kann zum Beispiel keine Lösung sein, unter allen Umständen auf Präsenzunterricht zu pochen wie etwa die Schulministerin in NRW. Was ist falsch an Hybridunterricht abseits von Corona? Wenn ein Schüler mal ein Bein gebrochen hat, könnte er so trotzdem teilnehmen. Man muss da endlich weiter denken.
Die Pandemie trifft die Kinder wohl am härtesten. Ist das die „Generation Corona“, deren weitere Zukunft womöglich auf Dauer beeinträchtigt ist?
HILGERS Gegen diesen Begriff wehre ich mich. Die Kinder haben unglaublich viel geleistet, auf vieles verzichtet, und viele haben auch gelernt, selbstständig zu lernen.
Was aber später im Lebenslauf dieser Generation fehlen wird, sind Praktika und berufliche Erfahrungen.
HILGERS Leider haben wir sogar eine Verdopplung der Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss von 50.000 auf 100.000 seit Beginn der Pandemie, und viele haben wegen Corona nur einen schlechten Abschluss geschafft. Das bedrückt mich sehr. Auch die Zahl der Ausbildungsplätze für junge Menschen,
auf die auch Schülerinnen und Schüler mit weniger guten Noten eine Chance gehabt haben, wie im Friseurberuf, in der Gastronomie und dem Handel, geht zurück. Dem Übergang von Schule und Beruf hätten wir uns mehr widmen müssen.
Was schlagen Sie vor?
HILGERS Ich schlage vor, dass Bundesregierung, Landesregierung und Kommunen in einer großangelegten, konzertierten Aktion Programme für den Übergang von Schule in Beruf auflegen, die diesen jungen Menschen eine faire Chance geben.
Sollten angesichts der Gefährdung durch die Omikron-Mutante die Weihnachtsferien verlängert werden?
HILGERS Nein. Aber der Schulbetrieb muss sichergestellt sein, das muss besser vorbereitet sein als vor einem Jahr, zum Beispiel durch Hybridunterricht. Auch wenn die Hälfte der Schüler oder der Lehrkräfte in Quarantäne ist, muss Unterricht stattfinden können.
Die allgemeine Impflicht für alle ab zwölf Jahren wird wohl kommen. Sollte die nicht ab fünf Jahren gelten?
HILGERS Die Entscheidung über die Impfpflicht steht noch aus. Für Kinder unter zwölf Jahren gibt es derzeit noch nicht mal eine allgemeine Empfehlung der Ständigen Impfkommission. Wir sollten hier nichts überstürzen – aber auch nichts ausschließen.
Empfehlen Sie Impfaktionen in Schulen und Kindertagesstätten?
HILGERS Gerade bei den jüngeren Kindern sind Eltern bei Kinderärzten gut beraten, das schafft auch mehr Vertrauen.
Die Zahl der Geburten ist während der Pandemie gestiegen. Wird unsere Gesellschaft kinderfreundlicher?
HILGERS Nein, leider nicht. Im Gegenteil. Unsere Gesellschaft ist geprägt vom Wunsch nach individueller Freiheit. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, bleibt dabei häufig auf der Strecke. Familie geht aber nur in der Wechselwirkung
von Freiheit und Verantwortung. Wie verantwortungsloses Verhalten aussieht, hat sich jüngst bei den Corona-Protesten in Schweinfurt gezeigt, wo eine Mutter mit ihrer vierjährigen Tochter die Absperrungen der Polizei durchbrechen wollte. Die wahren Totengräber der Freiheit sind die, die sie nachhaltig verantwortungslos wahrnehmen. Dazu gehört auch, dass viele Erwachsene das Impfen unbegründet verweigern.
Die Fälle von sexuellem Missbrauch in öffentlichen, gerade auch kirchlichen Einrichtungen haben zu Präventionskonzepten geführt. Sind Kinder und Jugendliche inzwischen ausreichend geschützt? HILGERS Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Fälle von Vernachlässigung und Gewalt, auch sexualisierter Gewalt, im familiären Umfeld stattfinden. Mit der letzten Strafrechtsänderung wurden die Möglichkeiten strafrechtlicher Generalprävention weitgehend ausgeschöpft. Jetzt muss es darum gehen, durch präventive Maßnahmen nicht nur die Institutionen, sondern auch das familiäre Umfeld zu erreichen. Hier gibt es noch einen sehr großen Handlungsbedarf. Zentral ist, Kinder zu hören, zu beteiligen und ernst zu nehmen. Nur so wird es uns gelingen, sie präventiv vor Gewalt zu schützen und auch seelische Verletzungen zu erkennen. Insbesondere psychische Gewalt gegen Kinder findet sehr oft unsichtbar statt.