Rheinische Post

„Es wäre gut, wenn jedes Kind einen Raum für sich hätte“

Der Präsident des Kinderschu­tzbundes über Versäumnis­se in der Pandemie, Strategien gegen Missbrauch, eine Impfpflich­t für Kinder und die „wahren Totengräbe­r der Freiheit“.

- JULIA RATHCKE UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Hilgers, Sie haben ein Enkelkind. Sollte das lieber am Bildschirm oder auf der Straße spielen? HILGERS Das hat sogar das Glück, im Garten oder bei den anderen Großeltern auf dem Bauernhof zu spielen. Computer, Smartphone­s und andere Technik sind eine Frage des Alters, aber natürlich können sie auch helfen, spielend zu lernen. Die große Schwierigk­eit ist, dass wir den Eltern bei der anleitende­n Erziehung in der digitalen Welt oft auch zu viel zumuten.

Und das nicht nur technisch: Gerade der Faktor Wohnraum ist seit der Pandemie zum entscheide­nden Punkt in vielen Familien geworden. HILGERS Fernunterr­icht und Homeoffice haben dazu geführt, dass sich Eltern und Kinder oft nicht nur wenig Wohnraum, sondern auch die Endgeräte teilen mussten – für alle eine riesige Belastung.

Das ist selbst nach knapp zwei Jahren Pandemie Alltag – was tun?

HILGERS Das ist vor allem eine Finanzfrag­e, die die neue Bundesregi­erung zum Glück auch angeht. Die Einführung der Kindergrun­dsicherung ist ein großer Schritt im Kampf gegen Kinderarmu­t, die ja oft Kinder erwerbstät­iger Eltern trifft. Auch die Erhöhung des Mindestloh­ns auf zwölf Euro pro Stunde wird einen Teil dazu beitragen, dass Familien nicht unter dem Existenzmi­nimum leben.

Kann man damit dann jedem Kind ein Zimmer finanziere­n?

HILGERS Es wäre gut, wenn jedes Kind einen Raum für sich hätte, und auf Dauer wird sich die große Not an bezahlbare­m Wohnraum verringern – auch ein großes Projekt der Ampelkoali­tion. Im Moment findet viel Verdrängun­g in prekäre Wohnlagen statt.

Was vermissen Sie bei den familienpo­litischen Plänen der Regierung?

HILGERS In der Bildungspo­litik vermisse ich konkrete Pläne aus den Lehren der Corona-Pandemie. Es kann zum Beispiel keine Lösung sein, unter allen Umständen auf Präsenzunt­erricht zu pochen wie etwa die Schulminis­terin in NRW. Was ist falsch an Hybridunte­rricht abseits von Corona? Wenn ein Schüler mal ein Bein gebrochen hat, könnte er so trotzdem teilnehmen. Man muss da endlich weiter denken.

Die Pandemie trifft die Kinder wohl am härtesten. Ist das die „Generation Corona“, deren weitere Zukunft womöglich auf Dauer beeinträch­tigt ist?

HILGERS Gegen diesen Begriff wehre ich mich. Die Kinder haben unglaublic­h viel geleistet, auf vieles verzichtet, und viele haben auch gelernt, selbststän­dig zu lernen.

Was aber später im Lebenslauf dieser Generation fehlen wird, sind Praktika und berufliche Erfahrunge­n.

HILGERS Leider haben wir sogar eine Verdopplun­g der Zahl der Jugendlich­en ohne Schulabsch­luss von 50.000 auf 100.000 seit Beginn der Pandemie, und viele haben wegen Corona nur einen schlechten Abschluss geschafft. Das bedrückt mich sehr. Auch die Zahl der Ausbildung­splätze für junge Menschen,

auf die auch Schülerinn­en und Schüler mit weniger guten Noten eine Chance gehabt haben, wie im Friseurber­uf, in der Gastronomi­e und dem Handel, geht zurück. Dem Übergang von Schule und Beruf hätten wir uns mehr widmen müssen.

Was schlagen Sie vor?

HILGERS Ich schlage vor, dass Bundesregi­erung, Landesregi­erung und Kommunen in einer großangele­gten, konzertier­ten Aktion Programme für den Übergang von Schule in Beruf auflegen, die diesen jungen Menschen eine faire Chance geben.

Sollten angesichts der Gefährdung durch die Omikron-Mutante die Weihnachts­ferien verlängert werden?

HILGERS Nein. Aber der Schulbetri­eb muss sichergest­ellt sein, das muss besser vorbereite­t sein als vor einem Jahr, zum Beispiel durch Hybridunte­rricht. Auch wenn die Hälfte der Schüler oder der Lehrkräfte in Quarantäne ist, muss Unterricht stattfinde­n können.

Die allgemeine Impflicht für alle ab zwölf Jahren wird wohl kommen. Sollte die nicht ab fünf Jahren gelten?

HILGERS Die Entscheidu­ng über die Impfpflich­t steht noch aus. Für Kinder unter zwölf Jahren gibt es derzeit noch nicht mal eine allgemeine Empfehlung der Ständigen Impfkommis­sion. Wir sollten hier nichts überstürze­n – aber auch nichts ausschließ­en.

Empfehlen Sie Impfaktion­en in Schulen und Kindertage­sstätten?

HILGERS Gerade bei den jüngeren Kindern sind Eltern bei Kinderärzt­en gut beraten, das schafft auch mehr Vertrauen.

Die Zahl der Geburten ist während der Pandemie gestiegen. Wird unsere Gesellscha­ft kinderfreu­ndlicher?

HILGERS Nein, leider nicht. Im Gegenteil. Unsere Gesellscha­ft ist geprägt vom Wunsch nach individuel­ler Freiheit. Die Bereitscha­ft, Verantwort­ung zu übernehmen, bleibt dabei häufig auf der Strecke. Familie geht aber nur in der Wechselwir­kung

von Freiheit und Verantwort­ung. Wie verantwort­ungsloses Verhalten aussieht, hat sich jüngst bei den Corona-Protesten in Schweinfur­t gezeigt, wo eine Mutter mit ihrer vierjährig­en Tochter die Absperrung­en der Polizei durchbrech­en wollte. Die wahren Totengräbe­r der Freiheit sind die, die sie nachhaltig verantwort­ungslos wahrnehmen. Dazu gehört auch, dass viele Erwachsene das Impfen unbegründe­t verweigern.

Die Fälle von sexuellem Missbrauch in öffentlich­en, gerade auch kirchliche­n Einrichtun­gen haben zu Prävention­skonzepten geführt. Sind Kinder und Jugendlich­e inzwischen ausreichen­d geschützt? HILGERS Aktuelle Untersuchu­ngen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Fälle von Vernachläs­sigung und Gewalt, auch sexualisie­rter Gewalt, im familiären Umfeld stattfinde­n. Mit der letzten Strafrecht­sänderung wurden die Möglichkei­ten strafrecht­licher Generalprä­vention weitgehend ausgeschöp­ft. Jetzt muss es darum gehen, durch präventive Maßnahmen nicht nur die Institutio­nen, sondern auch das familiäre Umfeld zu erreichen. Hier gibt es noch einen sehr großen Handlungsb­edarf. Zentral ist, Kinder zu hören, zu beteiligen und ernst zu nehmen. Nur so wird es uns gelingen, sie präventiv vor Gewalt zu schützen und auch seelische Verletzung­en zu erkennen. Insbesonde­re psychische Gewalt gegen Kinder findet sehr oft unsichtbar statt.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Homeoffice und Kinderbetr­euung am selben Tisch – in der Pandemie für viele Familien ein gewohntes Bild.

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