Das katholischste Klavierstück der Welt
Theologie nach Noten: Der grandiose französische Pianist Pierre-Laurent Aimard spielte Olivier Messiaens riesigen Zyklus „20 Blicke auf das Jesuskind“in der Kölner Philharmonie.
Für 150 Minuten standen jetzt in Köln zwei Kathedralen nebeneinander. Während im weltberühmten Dom abendliche Stille einkehrte, trat in der nahen Philharmonie ein Prediger auf, der uns mit der kindlichen Freude eines Franz von Assisi und der Strenge eines Thomas von Aquin beglückte. Ja, es war ein wahres Glück, in diesen Zeiten ein katholisches Bekenntnis erleben zu dürfen, dem man rückhaltlos vertrauen durfte.
Der Prediger war Pierre-Laurent Aimard, der französische Pianist, der bis zur Selbstaufgabe auch Unspielbares einstudiert. Nun bot er die „Vingt regards sur l'enfant Jésus“(„20 Blicke auf das Jesuskind“) des Komponisten Olivier Messiaen. Dies ist das vermutlich katholischste Klavierstück der Musikgeschichte, es ist Weihnachtsmärchen, Offenbarung des Johannes, Bußübung und Pontifikalamt in einem.
Messiaen schrieb den Zyklus im Jahr 1944, er hatte den Zweiten Weltkrieg an der Front und in deutscher Gefangenschaft erlebt, doch das Trauma hinderte ihn nicht daran, die Zentralthemen des Glaubens weiterhin mit fröhlicher Leidenschaft auszubreiten. Für Orgel hatte er bereits „Die Geburt des Herrn“und „Die verklärten Leiber“, „Das himmlische Gastmahl“oder „Die Himmelfahrt“vertont, verschwenderisch schöne Musik zwischen Moderne, modaler Technik, indischen Rhythmen, Vogelgesängen (Messiaen besaß hohe ornithologische Kompetenz) und Neuem Testament. Die „20 Blicke“sind die Verherrlichung des Katholizismus in Hochpotenz.
Aimard ist einer der wenigen Pianisten, die sich an diese Ikonensammlung nach Noten wagen. Sie erfordert einen spieltechnisch extrem geschulten Langstreckler. Was es da alles gibt: dicke Tontrauben, beladen mit Chromatik, Hochgefühl und Schmerz. Pfefferminzakkorde, die man aus dem Jazz kennt. Drängende Ekstase aus dem Erotiklabor des Russen Skrjabin. Man hört Debussys Tumulte und Ravels Totenglöckchen, und man hört die stille Einfachheit von Erik Satie. Und über allem zwitschert die Nachtigall ihre Koloraturen.
Aimard spielte das gottvoll, mit einer prallen Virtuosität, die sich aber auch auf die Schweigegelübde der Musik einließ. Er ließ uns die kleinen Wunder einer Musik bestaunen, die eine Art hypertheologisches Krippenspiel ist, bei dem die Muttergottes, die Hirten, die Engel und alle anderen vorkommen. Aber jenseits konkreter Bibelszenen begibt sich der Zyklus immer wieder auf abstrakte Ebenen, von mysteriösen Satzüberschriften wunderlich angedeutet: „Blick des Sternes“, „Das allmächtige Wort“oder „Blick der furchterregenden Salbung“. Wer bis zu diesem Abend nicht fromm war, der ist es jetzt.
Oder auch nicht. Die Musik lässt sich nämlich auch als rein technische Meisterleistung, als Feuerwerk von Inspiration und Gedankenschärfe bestaunen. Unendlich streng ist sie konstruiert, es gibt Kanontechniken und Reihenkombinationen, Krebsgänge, Spiegelungen und Krebsspiegelungen, also das ganze Tüftelzeug aus dem Experimentalbüro des 20. Jahrhunderts, das man von Komponisten wie Schönberg, Webern, Krenek und Strawinsky kennt. Messiaen steht ebenfalls in der Galerie der großen Meister, doch bleibt er bei aller formal-methodischen Sicherheit immer der ehrfürchtigste Diener des lieben Gottes und der heiligen Cäcilia. Im Parnass der Agnostiker war er der Glaubensfeste, der die himmlische Liebe und die erzene Majestät der Kirche bekräftigte, wenn die Welt ringsum in tiefem Zweifel lag. Und wenn er im Fortissimo die zeitlose Gewalt des Kreuzes dröhnen lässt, hallt diese Musik wie ein Titel einer Bach-Kantate: O Ewigkeit, du Donnerwort.
Natürlich floss im Laufe des Abends auch jene typische Messiaen-Süße in den Klang, die den aufmerksamen Hörer möglicherweise sogar verwirrte. Anfangs ließ die Zuckerfee ihre Kandis-Kristalle noch vorsichtig rieseln, doch nach dem gefühlt 1257. Akkord in Fis-Dur (Messiaens Lieblingstonart der Transzendenz Gottes) spürte man irgendwie ein kleines mentales Zwicken, wie den Beginn von Karies im Kopf. Dann sind Akkorde nämlich nicht nur wie aus Bronze, sonor und dunkel, sie haben auch einen Anflug von Kitsch, vor allem wenn die Musik am Ende ohnedies nach Weihrauch und schwerem Parfüm klingt.
Um 22.35 Uhr, nach dem „Blick der liebenden Kirche“, waren alle Beteiligten erschlagen, narkotisiert, verwirrt und beglückt. Das „Thema des Vaters“hatte Messiaens Prediger Aimard ein letztes Mal in die Klaviatur gejubelt. Danach war es vorbei. Gott sei Dank. Halleluja.