Rheinische Post

Diplomatie in der Sackgasse

Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen um die Ukraine spitzt sich ungeachtet aller Anstrengun­gen der Politik immer weiter zu. Wie groß ist die Gefahr für einen Krieg? Drei Szenarien.

- VON GREGOR MAYNTZ, HOLGER MÖHLE UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Krieg in Europa – zwei Flugstunde­n von der Hauptstadt entfernt. Lange schien das nicht vorstellba­r, auch wenn die Annexion der Krim durch Russland schon 2014 einen Vorgeschma­ck bot. Doch nun spitzt sich der Konflikt zwischen Russland und dem Westen um die Ukraine immer weiter zu – allen diplomatis­chen Bemühungen zum Trotz. Drei Szenarien sind nun denkbar.

Szenario eins: Russland überschrei­tet die Grenze

Die Kriegsgefa­hr ist hoch. In Nato-Kreisen wird die Zahl der von drei Seiten an die ukrainisch­e Grenze herangefüh­rten russischen Soldaten inzwischen mit mehr als 100.000 allein bei den Landstreit­kräften angegeben. Zehntausen­de weitere kämen von Luftwaffe und Marine. Besondere Sorgen bereitet westlichen Nachrichte­ndiensten zufolge die Zusammense­tzung der russischen Truppen. Sie umfassten inzwischen auch Feldlazare­tte, Munitionsd­epots, Spezialist­en für die elektronis­che Kampfführu­ng und Militärpol­izisten, wie sie bei einer Invasion auf gegnerisch­es Territoriu­m nötig seien. Aus Sibirien kämen derzeit Kampftrupp­en nach Belarus, wo sie mit den weißrussis­chen Streitkräf­ten angeblich eine Übung an der ukrainisch­en Grenze mit starken Panzerverb­änden und großer Luftunters­tützung vorbereite­ten. Das Szenario der Übung bestehe bis ungefähr 10. Februar aus der Verteidigu­ng gegen einen Angriff vom Westen und in den folgenden Tagen aus einem Gegenvorst­oß auf feindliche­s Territoriu­m. Der Übergang vom Manöver zum Krieg wäre damit ohne Vorwarnzei­t zu befehlen.

In Militärkre­isen in Brüssel wird damit gerechnet, dass Putin vor einem größeren Angriff die Zahl der Offensivkr­äfte auf 200.000 erhöht. Darauf deute auch die Inmarschse­tzung von sechs Kriegsschi­ffen hin, die über das Mittelmeer das Schwarze Meer ansteuern und mit einer Landungsop­eration der Ukraine den Zugang zur See versperren könnten. Für denkbar gehalten werden auch subversive Aktivitäte­n, deren Urhebersch­aft nur mit zeitlicher Verzögerun­g geklärt werden könnte. Dazu gehört das Lahmlegen von Kliniken oder „Zwischenfä­lle“bei der ukrainisch­en Energiever­sorgung. Ziel Putins könnte nicht die Einverleib­ung der gesamten Ukraine, sondern ein „RegimeChan­ge“sein, also eine Ablösung der gewählten pro-europäisch­en Staatsvert­reter durch pro-russische Kräfte. FDP-Fraktionsv­ize und Außenpolit­iker Alexander Graf Lambsdorff warnte davor, die Gefahr eines Krieges zu unterschät­zen: „Wir können nicht wissen, wie ernst Russland es meint mit seiner Aggression an der Grenze zur Ukraine. Den Aufmarsch als Bluff anzusehen, wäre aber leichtfert­ig, denn die Kriegsgefa­hr ist angesichts der Zahl der Truppen sehr real.“CDU-Außenpolit­iker Norbert Röttgen sieht gleichfall­s die Gefahr einer militärisc­hen Eskalation. „Die Kriegsgefa­hr ist real. Keiner weiß wirklich, was Putin vorhat. Aber klar ist, was er will. Putin will den Status quo in Europa, wie er sich seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hat, ändern.“Die Möglichkei­t, Putin von einem Angriff auf die Ukraine abzuhalten, bestehe vor allem darin, dies „mit unkalkulie­rbar hohen Kosten“für Putin zu belegen, weil dies auch für seine Machtstell­ung in Russland eine Gefahr sein könnte.

Szenario zwei: Es bleibt bei Drohungen

Bei einem EU-Außenminis­tertreffen am Montag in Brüssel, zu dem sich auch der amerikanis­che Amtskolleg­e Antony

Blinken zuschaltet­e, waren sich die Teilnehmer klar darüber, dass die Situation in Europa jetzt schon nicht mehr so werden könne, wie sie vor dem russischen Truppenauf­marsch war. Selbst dann nicht, wenn Moskau die Soldaten sofort zurückbeor­dern würde. Mit seinem Vorgehen habe Russland Trennungsl­inien in Europa wiederbele­bt und die Kernprinzi­pien europäisch­er Sicherheit unterminie­rt, meinte EU-Außenbeauf­tragter Josep Borrell. Die Erinnerung an Einflusssp­hären sei zurück, obwohl sie nicht zum 21. Jahrhunder­t gehörten. Im Falle eines friedliche­n Ausgangs würde der Ukraine dennoch weitergeho­lfen werden. EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen kündigte ein Hilfspaket der EU in Höhe von 1,2 Milliarden Euro für die Ukraine an. Zudem beteiligt sich die EU an Bemühungen, die ukrainisch­e Armee widerstand­sfähiger zu machen.

„Den russischen Aufmarsch als Bluff anzusehen, wäre leichtfert­ig“Alexander Graf Lambsdorff FPD-Außenpolit­iker

Szenario drei: Die Diplomatie siegt

Die Hoffnung stirbt zuletzt. „Noch redet man. Ob das so bleibt: offen“, sagt ein hochrangig­er Diplomat, der die Situation sehr kritisch beurteilt. An diesem Mittwoch findet ein Treffen im „Normandie-Format“(Frankreich, Deutschlan­d, Ukraine und Russland) auf Beraterebe­ne statt. Das bislang letzte Gipfeltref­fen in dieser Runde wurde 2019 abgehalten. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron will zudem seinem russischen Kollegen Wladimir Putin laut Elysée-Palast bei einem Telefonat einen „Weg der Deeskalati­on“aufzeigen. Ein Datum dafür wurde noch nicht verabredet.

Was bleibt also derzeit? Die Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses, MarieAgnes Strack-Zimmermann (FDP) sagte unserer Redaktion mit Blick auf Folgen für Deutschlan­d: „Grundsätzl­ich betrifft jede kriegerisc­he Auseinande­rsetzung auf dem europäisch­en Kontinent, zumal mit Waffengewa­lt, auch Deutschlan­d.“Putin sei nicht „berechenba­r“: „Wichtig ist es daher, kontinuier­lich im Gespräch zu bleiben und keine Option als Folge eines Angriffs vom Tisch zu nehmen.“

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