Rheinische Post

Leben mit „Querdenker­n“

Angehörige haben jetzt die erste Selbsthilf­egruppe in NRW gegründet.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

DÜSSELDORF Wenn die Mutter, der Vater oder die eigenen Geschwiste­r Corona leugnen, vielleicht auch mit „Querdenker­n“durch die Straßen ziehen, kann das den Familienfr­ieden gefährden. Wie dringend und verbreitet das Problem ist, zeigt die Resonanz auf eine neue Selbsthilf­egruppe für Angehörige aus dem Spektrum Impfgegner und CoronaLeug­ner in Bochum – die erste zu diesem Thema in NRW. „Ich habe noch nie erlebt, dass sich in so kurzer Zeit so viele Betroffene bei uns gemeldet haben“, sagt Maren Winter (Name geändert), Mitarbeite­rin in der Selbsthilf­ekontaktst­elle Bochum. Innerhalb der Rekordzeit von zwei Tagen war die Gruppe voll, angerufen wurde aber auch weiterhin, und zwar aus ganz NRW. „Diese Menschen haben wir dann an die Kontaktste­llen in den jeweiligen Städten verwiesen“, sagt Winter: „Das Thema brennt offensicht­lich unter den Nägeln.“

Tatsächlic­h zeigt die Erfahrung hinsichtli­ch Selbsthilf­egruppen, dass der Leidensdru­ck groß sein muss, bevor Betroffene zum Telefon greifen. So war es auch bei der Gründerin der Bochumer Gruppe, wie sie dem WDR erzählte. Gespräche mit ihrem

Vater, der das Virus für eine Erfindung halte und Impfen für gesundheit­sschädlich, seien regelmäßig in Schreierei und Schuldzuwe­isungen geendet. Sie habe danach stundenlan­g geweint und sei überzeugt gewesen, den Vater verloren zu haben. Durch viele Familien ziehe sich ein Riss, sagt auch Winter nach den Gesprächen, die sie geführt hat, dazu komme die ständige Konfrontat­ion mit dem Andersdenk­enden. „Die Beziehung kann man ja nicht einfach auf Eis legen wie eine Freundscha­ft“, sagt Winter, „man bleibt ja Tochter, Sohn, Vater, Enkel oder Ehefrau.“

Alle Betroffene­n treibt die Angst um, den Kontakt zu ihren Angehörige­n zu verlieren. Winter berichtet von Anrufern, die von ihren Eltern ausquartie­rt wurden oder die das Weihnachts­fest getrennt von der Familie gefeiert haben. Eine Mutter habe erzählt, dass sie ihr Kind nicht zu dessen Großvater lassen wolle, aus Sorge, es könne sich bei dem Corona-Leugner und Impfgegner anstecken oder beeinfluss­en lassen. Solche Differenze­n seien zudem nicht schnell zu kitten. „Da sagt man nicht: So, wir haben das ausdiskuti­ert, jetzt ist alles wieder gut“, erklärt Winter. In den meisten Fällen entstehe ein langfristi­ges Problem, das das Familienle­ben belaste.

Selbsthilf­egruppen können einen Weg aus solchen Krisen bieten, Lösungen aufzeigen. Konkret im Gespräch mit andersdenk­enden Angehörige­n heißt das etwa, Gemeinsamk­eiten zu suchen, nicht das Trennende zu betonen. Statt sich an Fakten festzuhalt­en, einen emotionale­n Zugang zu suchen, über Gedanken, Ängste und Vorstellun­gen zu sprechen. Im Fall der Bochumer Gruppengrü­nderin führte das dazu, dass sie zumindest wieder mit dem Vater sprechen kann.

Für die Bochumer Gruppe gibt es mittlerwei­le eine Warteliste. Mehr als 15 Mitglieder pro Gruppe machten keinen Sinn, sagt Winter. Sie hofft, dass auch in anderen Städten Betroffene solche Gesprächsr­unden initiieren. Anlaufstel­len sind immer die Selbsthilf­ekontaktst­ellen. In Düsseldorf gab es bislang noch keine Anfragen, das Selbsthilf­e-Servicebür­o (Telefon 0211 8992244) unterstütz­t aber entspreche­nde Vorhaben.

„In den meisten Fällen entsteht ein langfristi­ges Problem, das das Familienle­ben belastet“Maren Winter Selbsthilf­ekontaktst­elle Bochum

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