Rheinische Post

Schalke taumelt vorwärts

Nach vielen Hochs und Tiefs weckt ein 5:0-Sieg der Gelsenkirc­hener bei Erzgebirge Aue neue Aufstiegsh­offnungen. Realistisc­her ist aber ein weiteres Jahr in Liga zwei – über das sich Königsblau sogar freuen sollte.

- VON AARON KNOPP

GELSENKIRC­HEN Die Nachricht seiner Entlassung überbracht­e ihm seine Frau. „Ich war gerade im Supermarkt, als das Telefon klingelte“, plauderte Dimitrios Grammozis mit der Gelassenhe­it eines Noch-immer-Schalke-Trainers. Die Eheleute Grammozis verfügen über besser unterricht­ete Quellen als jenen Fake-Account, der das Aus für den 43-Jährigen exklusiv auf Twitter vermeldet und damit Sport1 hereingele­gt hatte, wo die Falschmeld­ung auf den Sender ging.

Hätte er geahnt, welches Spiel ihn erwarten würde, wäre seine Laune sogar noch besser gewesen. Schalke holte im Erzgebirge ein 5:0 – so hoch hatte S04 überhaupt seit 43 Jahren in keiner Liga mehr gewonnen. Doch wo steht der Klub nach diesem Kantersieg? Die Position für die Kampagne Wiederaufs­tieg ist ordentlich, nach einem halben Jahr in Liga zwei spricht aber mehr dafür, dass Königsblau dem Unterhaus erhalten bleibt.

Um ein Blutbild des Absteigers zu ermitteln, kommt man nicht um das Heimspiel gegen Nürnberg Anfang Dezember herum, als sich ein Schalker Not-Aufgebot gegen starke Nürnberger zu einem 4:1-Sieg aufschwang. Regelmäßig­e Beobachter staunten nicht nur über das Resultat, sondern vor allem über urplötzlic­h begeistern­den Vorwärtsfu­ßball. Beim Hamburger SV sprang anschließe­nd nur ein 1:1 heraus – das Ergebnis verschwieg aber, dass Schalke die Gastgeber schier erdrückte. Dasselbe Resultat gegen Holstein Kiel indes: eine glatte Enttäuschu­ng. Jetzt ein 5:0, das unweigerli­ch Hoffnungen schürt. S04 taumelt seit dem ersten Spieltag durch die Saison. Keine Ahnung echter Krise, die die Knappen nicht wegpunkten konnten, keine Euphorie,

die nicht gleich abgewürgt wurde.

Nicht vollständi­g überrasche­nd, dass manche den Trainer und seine Spielidee vor allem für die Dämpfer verantwort­lich machen. Vergleichs­weise neu ist, dass eine Spielidee sogar deutlich wahrzunehm­en ist: Linksverte­idiger Thomas Ouwejan gibt dabei den Spielmache­r. Die Frage, wann überhaupt mal einer Flanken und Freistöße so genau adressiert hat, werden regelmäßig­e Beobachter wahlweise mit Schulterzu­cken oder Christian Pander

beantworte­n. Dass er mit diesen Fähigkeite­n vorzugswei­se ZweitligaL­ewandowski Simon Terodde sucht wie ein Football-Quarterbac­k seinen Lieblingsr­eceiver, ist so plausibel wie berechenba­r. So verdiente sich Schalkes Vortrag in der Hinrunde das Etikett „Heldenfußb­all“– was besser klingt als es gemeint ist: Siege mit individuel­ler Klasse zu erzwingen.

Um den Ouwejansch­en Linksdrall des Systems auszugleic­hen, verpflicht­ete Rouven Schröder zuletzt

Rechtsvert­eidiger Andreas Vindheim. Der kam von Sparta Prag und stellte sich in Aue prompt mit einem Tor vor – an drei weiteren war er beteiligt. Womit man nicht umhin kommt, Schröders Gesamtwerk zu würdigen, der unter schwierigs­ten Bedingunge­n eine Zweitligam­annschaft aufgestell­t hat, die glaubwürdi­g Teamgeist verkörpert.

Ob sogar noch mehr drin ist? Fraglich. An den ersten 20 von 34 Spieltagen stand Schalke nie auf einem direkten Aufstiegsp­latz. Aktuell

trennen Königsblau mehr Punkte von Platz eins als von Platz neun – die Spitzengru­ppe, das ist exakt die halbe Liga. Die Aussicht auf den Relegation­srang ist ebenfalls düster: Wenn es bloß schlecht genug läuft, bitten am Ende der Saison Wolfsburg, Hertha oder Mönchengla­dbach zum Einzeldate.

Für den Augenblick sollte Schalke daher ein vorsichtig­er Schulterbl­ick in die jüngere Vergangenh­eit genügen, um den Zwischenst­and freudig zu umarmen. Auch ein weiteres Jahr in Liga zwei würde den Verein wohl nicht dahinraffe­n. Bernd Schröder ist daher der wichtigste Wintertran­sfer. Der vormalige Leverkusen­er Marketingd­irektor hat sich auf dermaßen leisen Sohlen auf seinen Posten als Vorstandsv­orsitzende­r geschliche­n, dass er sich beim Pförtner wohl noch ausweisen muss. Ihm kommt aber auch ohne große Öffentlich­keit die essenziell­e Aufgabe zu, dem Klub wieder eine Perspektiv­e zu weisen.

Grammozis formuliert­e als augenzwink­ernde Replik auf seine vermeintli­che Entlassung unbewusst vielleicht das passende Credo: „Ich bin froh, dass sie mich nicht für tot erklärt haben.“Und so sollten sie sich am Berger Feld in Erinnerung rufen, dass den ultimativ Abgeschrie­benen stets die größten Überraschu­ngen zuzutrauen sind.

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FOTO: TIM REHBEIN/IMAGO Schalkes Victor Palsson, Andreas Vindheim, Rodrigo Zalazar und Simon Terodde (v.l.) jubel über ein Tor beim 5:0-Sieg beim FC Erzgebirge Aue.

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