Rheinische Post

Auch das Wie bestimmt das Was

- VON MORITZ DÖBLER BERICHT DER KANZLER SCHWEIGT, DER BUNDESTAG..., POLITIK

Jede, wirklich jede Debatte im Deutschen Bundestag hat ihren Wert, selbst wenn nicht immer alle Ränge so komplett besetzt sind und es nicht immer um so viel geht wie am Mittwoch. Der Plenarsaal ist der Ort, an dem die repräsenta­tive Demokratie sich sichtbar zeigt und ausgestalt­et. „Alle Staatsgewa­lt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20 des Grundgeset­zes. Und die Abgeordnet­en seien „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfe­n“, stellt Artikel 38 klar. Das gilt immer – und doch war diese erste „Orientieru­ngsdebatte“über eine allgemeine Impfpflich­t etwas Besonderes.

Denn die Abgeordnet­en sind ähnlich gespalten in dieser Frage wie das ganze Volk. Weder die Befürworte­r noch die Gegner können es sich leicht machen, wenn sie die Gefahren der Pandemie, aber auch die Freiheitsr­echte des Einzelnen ernst nehmen. Selbstvers­tändlich darf der verfassung­smäßig gar nicht vorgesehen­e, aber übliche Fraktionsz­wang bei der späteren Abstimmung hier nicht gelten. Der Rückblick auf ähnlich gewichtige und zwiespälti­ge Debatten im Bundestag – Bonn/Berlin, Sterbehilf­e – zeigt aber auch, dass die Akzeptanz für die letztendli­che Entscheidu­ng auf diesem durchaus mühsamen Weg steigt.

Nach zwei Corona-Jahren kommt das Parlament wieder stärker zur Geltung. Unter Bundeskanz­lerin Angela Merkel war die sogenannte MPK das alles entscheide­nde Gremium. Es war die Zeit der Exekutive, im Guten wie im Schlechten. Nun verschiebe­n sich die Gewichte richtigerw­eise wieder zugunsten der Legislativ­e. Die Demokratie gewinnt. Ob die neue Bundesregi­erung einen eigenen Gesetzesen­twurf scheut, um genau das zu erreichen oder nur um keine Angriffsfl­ächen zu bieten, kann dahingeste­llt bleiben.

Dass es vernünftig ist, sich impfen und boostern zu lassen, lässt sich nicht mehr bezweifeln. Die wissenscha­ftlichen Belege sind eindeutig – und eindeutige­r als in vielen anderen Bereichen unseres Lebens. Der Nutzen liegt in der aktuellen Omikron-Welle vor allem darin, das Risiko einer schweren Erkrankung für sich selbst zu verringern. Aber eine freie Gesellscha­ft sichert auch – innerhalb gewisser Grenzen – das Recht, unvernünft­ig zu handeln. Eine Abwägung muss also getroffen werden, und das ist Sache des Bundestags E und nicht der Bundesregi­erung. s war aber nicht nur eine besondere, sondern eine besonders gute Debatte. Kluge Argumente dafür und dagegen, leidenscha­ftliche, auch nachdenkli­che Reden, ernsthafte­r Diskurs. Nur: So wichtig diese erste Debatte war, sind Abwägung und Entscheidu­ng zwar notwendig, aber alles andere als hinreichen­d. Denn gut gemeint ist nicht gut gemacht, wie auch die neue Bundesregi­erung in der Pandemie dokumentie­rt. Gerade änderte sich über Nacht der Genesenens­tatus, die Engpässe bei den PCR-Tests sind beschämend. Wenn die allgemeine Impfpflich­t also kommen soll, dann muss sie auch überzeugen­d umgesetzt werden. Wer kontrollie­rt? Wie werden die zuständige­n Stellen ausgestatt­et? Wie werden die Daten erfasst, wo werden sie gespeicher­t? Welche Konsequenz­en drohen bei einem Verstoß? Wann wird Pflicht zu Zwang? Innerhalb welcher Fristen müssen die zweite und dritte Impfung nachgewies­en werden? Wer ist ausgenomme­n? Die Antworten auf solche konkreten Fragen bestimmen den Nutzen des Vorhabens und fehlen am Anfang des parlamenta­rischen Verfahrens naturgemäß noch. Aber auch das Wie bestimmt das Was.

„Die Impfpflich­t führt ja dazu, dass man sich zum Schluss freiwillig impfen lässt“, sagte Karl Lauterbach jüngst. Daraus spricht eine verstörend naive Hoffnung, die auf den harten Kern der Impfgegner sicher nicht zutrifft. Wenn allerdings nach wie vor das Ziel ist, dass sich möglichst viele freiwillig impfen lassen, sind noch längst nicht alle Mittel ausgeschöp­ft. Denn noch stoßen die Menschen nicht bei jedem Gang durch den Wohnort auf ein sofort verfügbare­s Impfangebo­t, noch werden nicht alle individuel­l angesproch­en und angeschrie­ben, und noch bilden sich vor Impfzentre­n Schlangen. Die Debatte ist noch nicht annähernd beendet, weder im Bundestag noch in der Gesellscha­ft.

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