Ein Gutachten und die Folgen
Wenige Tage vor der Dritten Synodalversammlung ringt die katholische Kirche um Glaubwürdigkeit. Zu den Forderungen nach Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal gehört, dass Bischöfe zurücktreten sollen.
München hat die Debatte verändert. Seit dem neuen Missbrauchsgutachten ist der Ton direkter, unversöhnlicher geworden. Forderungen werden an den emeritierten Papst Benedikt XVI. gestellt und weitere Antworten auf sein Bekenntnis gewünscht, wonach er eine falsche Aussage im unabhängigen Gutachten gemacht und in Wahrheit doch als Erzbischof von München 1980 an jener Sitzung vom 15. Januar teilgenommen hat. In der war über den Fall eines priesterlichen und überführten Sexualstraftäters aus Essen gesprochen worden, der ins Münchner Erzbistum zunächst zur Therapie kam, später dort aber seelsorgerisch tätig und erneut straffällig wurde.
Während der Vatikan gestern die Verdienste von Benedikt XVI. betonte, der als erster Papst auf seinen Apostolischen Reisen mit Missbrauchsopfern zusammengetroffen sei und „inmitten des Sturms der Skandale in Irland und Deutschland das Gesicht einer bußfertigen Kirche“gezeigt habe, schnellen die Austrittsanträge vor allem in Bayern in die Höhe. Zudem beschäftigen sich Parteienvertreter im Freisinger Stadtrat nach einem Bericht des „Merkur“mit der Frage, ob Kardinal Wetter und der emeritierte Papst Ehrenbürger der Stadt bleiben können. Kardinal Wetter räumte inzwischen eigene Fehler ein.
Die Vorgänge der vergangenen Tage haben das Erzbistum München unmittelbar erschüttert. Sie werden die Kirche dort und auch hierzulande insgesamt verändern. Forderungen nach Aufklärung ohne Rücksichtnahmen werden auch aus der Politik laut: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kritisiert die innerkirchliche Aufklärung; die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Lamya
Kaddor, plädiert für eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Kirche; und der neue CDU-Chef Friedrich Merz rechnet auch mit Gerichtsverfahren. Was vor wenigen Wochen als Einmischung von außen begriffen worden wäre, findet nun vermehrt Fürsprecher: die Kontrolle und Aufklärung durch außerkirchliche Aufsichten. Forderungen nach unabhängigen Ombudsstellen für Opfer sexualisierter Gewalt sind dabei nur der erste Schritt. Die Kirche könnte absehbar die Aufklärungshoheit über die zahllosen Vergehen ihrer Priester verlieren. Das ist nicht nur seit München eine richtige Konsequenz; aber seit München scheint es die einzig richtige zu sein. Sexueller Missbrauch ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft.
Das Münchner Missbrauchsgutachten war nicht das erste in Deutschland; es wird auch nicht das letzte sein. In manchen Bistümern wurden vergleichbare Studien noch nicht einmal in Auftrag gegeben. Vergleichbar erschreckende Ergebnisse sind auch von dort zu befürchten. München ist aber gleichwohl eine Zäsur. Es ist nicht nur großer Druck von außen gekommen, und nicht nur Laien, Politiker und kirchliche Reformbewegungen fordern seither Konsequenzen. Es sind jetzt auch Bischöfe wie der Essener Franz-Josef Overbeck, Helmut Dieser aus Aachen, Franz-Josef Bode aus Osnabrück, die das Wort ergreifen und betonen, dass Benedikt sich zu den Vorwürfen jetzt erklären müsse. Und für den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf haben viele frühere Bischöfe ihre Vorbildfunktion eingebüßt.
Eine Kirche ohne Vorbilder? Der Salzburger Fundamentaltheologe Professor Gregor Maria Hoff formuliert das so: „Wer kann dieser Kirche noch glauben, wenn Päpste und die, die sie zu Päpsten wählen, ihre persönliche Glaubwürdigkeit verspielen?“Zu den Konsequenzen
aus dem Missbrauchsskandal und der oftmals mangelnden Bereitschaft, Verantwortung wahrzunehmen, müssen Rücktrittsgesuche möglich, also vom Papst auch angenommen werden. In jüngerer Vergangenheit sind erst zwei Bischöfe in Deutschland zurückgetreten: Walter Mixa 2010 in Augsburg und Franz-Peter Tebartz-van Elst 2014 in Limburg – beide wegen unzulänglicher Amtsführung. Bei Bischöfen, denen Pflichtverletzungen bei der Missbrauchsaufklärung nachgewiesen wurden, gab es dieses Zeichen bislang nicht. Der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, der Hamburger Erzbischof Stefan Heße sowie die beiden Kölner Weihbischöfe Dominikus Schwaderlapp und Ansgar Puff blieben im Amt. „Die seriellen Betroffenheitsbekundungen von Bischöfen verfangen nicht mehr, weil sich trotz aller kirchlichen Schritte, die in Richtung Aufarbeitung und Prävention gesetzt wurden, die Beharrungslogik im System als übermächtig erweist“, so Hoff gegenüber unserer Redaktion.
Mit ihrer Rückkehr ins Amt wurden die Bischöfe gewissermaßen begnadigt. Die Kirche erteilt sich selbst die Vergebung. Und die Betroffenen stehen am Rande und können dieser Art der Selbstreinigung nur zusehen.
Die 82-seitige Stellungnahme Benedikts im Münchner Gutachten ist vor diesem Hintergrund das Dokument eines Versuchs, das Amt des Priesters, wie er es sieht, zu schützen. Vor knapp drei Jahren publizierte der emeritierte Papst einen Aufsatz zur Missbrauchskrise und machte darin die 68er-Bewegung verantwortlich. Denn zu ihrer „Physiognomie“habe es gehört, „dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde“. Zugleich ereignete sich nach seinen Worten „ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte“. Eine aufgeklärte Gesellschaft wird jetzt von der Institution Kirche Rechenschaft verlangen.
„Betroffenheitsbekundungen von Bischöfen verfangen nicht mehr“Professor Gregor Maria Hoff Fundamentaltheologe