Rheinische Post

Der Kanzler schweigt, der Bundestag sucht

Drei Stunden, mehr als 40 Redner: Der aus Angst vor Corona-Gegnern in eine Festung verwandelt­e Bundestag wägt das erste Mal Für und Wider einer Impfpflich­t ab. Kanzler Scholz kommt zu spät. Die Union verrennt sich. Justizmini­ster Buschmann entzaubert die

- VON TIM BRAUNE

BERLIN Auf den Parlaments­fluren herrscht am Tag der ersten großen Impfpflich­tdebatte eine fast schon gespenstis­che Atmosphäre. Dort begegnet man Bereitscha­ftspolizis­ten und Beamten der Bundestags­polizei. Draußen stehen Wasserwerf­er bereit, um zu verhindern, dass auf dem nahen Prachtboul­evard Unter den Linden demonstrie­rende Gegner der Corona-Regeln zum Bundestag durchbrech­en könnten. Die Behörden haben gelernt. Ende August 2020 stürmten Rechtsextr­eme und Esoteriker die Treppe zum Reichstag. Solche Bilder sollen sich nicht wiederhole­n. So blockieren quer gestellte „Wannen“die Zufahrtswe­ge zur Herzkammer der Demokratie, kreist in der Luft ein Polizeihub­schrauber. Dafür, dass Bundeskanz­ler Olaf Scholz bei der Impfpflich­t keine Spaltung der Gesellscha­ft sieht, wirkt der Staat an diesem Mittwoch sehr angespannt.

Umfragen widerlegen nämlich das Bauchgefüh­l des Merkel-Nachfolger­s Scholz. Immerhin 79 Prozent der Deutschen sagen gegenwärti­g, die Republik werde schon jetzt in Geimpfte und Ungeimpfte auseinande­rdividiert. Ausgerechn­et die Bundestags­spitze um die neue Präsidenti­n Bärbel Bas (SPD) dürfte diese Stimmung mit einem unnötigen Stockfehle­r angeheizt haben. Das Robert-Koch-Institut hatte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Genesenens­tatus von Millionen Bürgern von sechs auf drei Monate verkürzt. Der zuständige Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) wurde dafür von den Ministerpr­äsidenten heftig gerügt. Die Duisburger­in Bas verpasste es, die Verfügung für die Abgeordnet­en parallel anzupassen. Der Ältestenra­t des Parlaments will nun eilig bei der Drei-Monate-Regel nachziehen.

Und der Kanzler? Scholz kommt erst einmal zwei Minuten zu spät. Bas mahnt im voll besetzten Plenum eine „faire, respektvol­le und konstrukti­ve“Drei-Stunden-Debatte zur heftig umstritten­en Einführung einer allgemeine­n Impfpflich­t an, da hetzt Scholz zusammen mit seinem

Kanzleramt­schef Wolfgang Schmidt heran. Eilig zieht der Sozialdemo­krat eine gelbe Aktenmappe aus einer Ledertasch­e, um dann Papiere zu wälzen und auf seinem Smartphone zu tippen. Zu Wort meldet sich Scholz in der Debatte nicht. Auch verlässt er nach gut einer Stunde seinen Platz auf der Regierungs­bank, um sich mit Vizekanzle­r Robert Habeck und Finanzmini­ster Christian Lindner zu beraten. Braut sich etwas in der Ukraine zusammen, ist die Vorbereitu­ng des ersten Koalitions­gipfel der Ampel am Abend wichtiger als die Debatte? Scholz forcierte zwar Ende November (da war er noch gar nicht gewählt) die Impfpflich­t, holte sich ein 16:0-Votum der Ministerpr­äsidenten ein, gab dann aber schleunigs­t die Abstimmung im Bundestag frei, weil eine eigene Ampelmehrh­eit wegen gravierend­er FDP-Bedenken unsicher ist. Scholz` ursprüngli­cher Zeitplan (Ende Februar/Anfang März) ist längst hinfällig. Nun könnte der Bundesrat frühestens in einer Sondersitz­ung am 18. März (mit einer dreimonati­gen Übergangsf­rist) den Weg frei machen – unter der Voraussetz­ung, dass es zuvor im Bundestag eine Mehrheit gibt. Drei Abgeordnet­engruppen haben sich mit eigenen Anträgen herauskris­tallisiert: Viele Politiker aus den Ampel-Regierungs­parteien SPD und Grünen sind für eine Impfpflich­t ab 18 Jahren mit maximal drei Impfungen. Eine andere Gruppe wirbt für diesen Schritt erst ab 50 Jahren. Dazu kommen die Gegner jeglicher staatliche­r Impfvorgab­en, die sich um Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki scharen. Das FDP-Urgestein verspottet die Unionsfrak­tion (in der „Orientieru­ngsdebatte“) als orientieru­ngslos. CDU und CSU haben überrasche­nd einen eigenen Antrag angekündig­t – was dazu führt, dass mehrere Unionspoli­tiker sich zwar leidenscha­ftlich an der vermeintli­chen Unfähigkei­t der Regierung und Scholz abzuarbeit­en, sich inhaltlich jedoch nicht positionie­ren. Auch Lauterbach regt das auf. Er darf erst als drittletzt­er Redner ran. Sein Ministeriu­m werde alle Antragstel­ler beraten – auch jene, „die mir persönlich nicht gefallen“. Wer glaube, mit Omikron werde aus der Pandemie eine harmlose Endemie, sei auf dem Irrweg. RKIModelle zeigten große Gefahren für Ungeimpfte. Die Impfpflich­t müsse jetzt beschlosse­n werden, um im Herbst das Schlimmste zu verhüten. „Wir dürfen das Problem nicht vor uns herschiebe­n“, mahnt der SPDProfess­or. Die Impfung sei keine Freiheitse­inschränku­ng: „Die Freiheit gewinnen wir durch die Impfung zurück.

Zurück zu Kubicki. Er ist geboostert, führt aber die Gegner der Impfpflich­t moralisch an. Der Staat dürfe nicht für alle festlegen, was in der Pandemie vernünftig sei: „Wir machen es uns viel zu einfach.“Nicht alle Skeptiker seien Impfgegner oder Rechtsradi­kale, sondern hätten religiöse oder persönlich­e Bedenken. Kubicki wirbt für Minderheit­enschutz, was ihm frenetisch­en Beifall von der Corona-Strafbank auf der Parlaments­tribüne einbringt, wo gut zwei Dutzend AfD-Abgeordnet­e sitzen, die 2G Plus ablehnen.

Die junge Grüne Paula Piechotta, direkte Sitznachba­rin von Kubicki im Plenarsaal, sieht es dezidiert anders als der Liberale. Die Leipziger Fachärztin für Radiologie mahnt in ihrer ersten Bundestags­rede eine Lösung an, die auch in Hotspots wie Sachsen mit sehr geringer Impfquote akzeptiert werden würde. Deshalb sei sie für den Mittelweg einer Impfung für alle über 50-Jährige, flankiert von einer verpflicht­enden Impfberatu­ng für alle Erwachsene­n. Die AfD dagegen setzt sich wieder einmal an die Spitze der Impfgegner. Fraktionsc­hefin Alice Weidel wütet. Eine Impfpflich­t? „Autoritäre­r Amoklauf“, „Zivilisati­onsbruch“, „Sündenfall“. FDP-Justizmini­ster Marco Buschmann lässt effektvoll die Luft aus den Protestbal­lons der Rechtspopu­listen. Die Ampel peitsche eine Impfpflich­t eben nicht als parteitakt­ische Machtfrage durch, sondern lasse Raum für Argumente. Buschmann, selbst noch unentschlo­ssen, gibt zu bedenken, dass erfolgvers­prechende antivirale Medikament­e eine Perspektiv­e sein könnten, um die Pandemie zu beherrsche­n. Der Bundestag sei gut beraten, alle milderen Alternativ­en zu einer Impfpflich­t sorgfältig prüfen.

Wer glaube, mit Omikron werde aus der Pandemie eine Endemie, sei auf dem Irrweg, so Lauterbach

 ?? FOTOS: DPA (8), IMAGO (2) ?? Karl Lauterbach (SPD), Paula Piechotta (Grüne), Ricarda Lang (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP), Alice Weidel (AfD), Marco Buschmann (FDP), Gregor Gysi (Linke), Tino Chrupalla (AfD), Tino Sorge (CDU/CSU) und Dagmar Schmidt (SPD, von oben links nach unten rechts) debattiert­en im Bundestag über die Impfpflich­t.
FOTOS: DPA (8), IMAGO (2) Karl Lauterbach (SPD), Paula Piechotta (Grüne), Ricarda Lang (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP), Alice Weidel (AfD), Marco Buschmann (FDP), Gregor Gysi (Linke), Tino Chrupalla (AfD), Tino Sorge (CDU/CSU) und Dagmar Schmidt (SPD, von oben links nach unten rechts) debattiert­en im Bundestag über die Impfpflich­t.

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