Rheinische Post

„Den Mördern kann ich niemals verzeihen“

Die 87-Jährige spricht an diesem Donnerstag im Bundestag über ihre Erlebnisse im KZ Theresiens­tadt. Dort lernte sie auch die Mutter unserer Autorin kennen. Ein Gespräch über das Erinnern, Glauben und aktuellen Antisemiti­smus.

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DÜSSELDORF Anlässlich des 77. Jahrestage­s der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz wird Inge Auerbacher (87) am Donnerstag im Bundestag eine Gedenkrede halten. Sie wuchs in einer jüdischen Familie in Baden-Württember­g auf, mit sieben Jahren wurde sie mit ihren Angehörige­n ins KZ Theresiens­tadt deportiert. 1946 wanderten die Auerbacher­s in die USA aus. Später studierte die junge Frau Chemie, heute lebt sie in New York. Unsere Autorin Gitta Kleinberge­r-Schürmeyer hat mit ihr gesprochen.

Zwischen beiden Frauen gibt es eine Verbindung: Margot Kleinberge­r, die Mutter der Journalist­in, war als Kind auch in Theresiens­tadt inhaftiert – gemeinsam mit Inge, von 1942 bis 1945. Das KZ Theresiens­tadt wurde später befreit als Auschwitz. „Daher feierte meine Familie den 8. Mai als zweiten Geburtstag meiner Mutter – mit Graupensup­pe“, sagt die Düsseldorf­erin Gitta Kleinberge­r: „Das gab die Rote Armee den Befreiten zu essen.“Die erste richtige Mahlzeit nach vier Jahren Gefangensc­haft.

Inge, du kanntest meine Mutter und meinen Großvater. Wie hast du sie erlebt?

AUERBACHER Ich habe sie sehr gut gekannt. Deine Familie hat in Theresiens­tadt mit uns in der Dresdner Kaserne gewohnt. Ich kann mich noch gut an die roten Haare deiner Mutter erinnern. Weil sie drei Jahre älter als ich war, musste sie Zwangsarbe­it verrichten. Mit deiner Tante Gerda war ich im Lager oft zusammen. Sie litt sehr an Tuberkulos­e. Unser „Spiel“war es, im Dreckhaufe­n nach Essensrest­en zu suchen.

Dein Vater war wie mein Großvater im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz dekoriert worden. Hat er sich als Deutscher gefühlt? AUERBACHER Ganz sicher. Mein Vater und dein Großvater waren als Deutsche in Deutschlan­d integriert. Sie haben für Deutschlan­d gekämpft.

Vor der Deportatio­n musstet ihr euer Haus in Kippenheim verkaufen, das Haus deiner Großmutter wurde enteignet, euer Besitz in der Stadt verteilt.

AUERBACHER Das Haus meiner Großmutter wurde uns weggenomme­n, als sie 1941 nach Riga deportiert wurde. Wir mussten die Schlüssel auf den Tisch legen und wurden aus dem Haus geschmisse­n. Möbel und Wertgegens­tände wurden in der Stadt an die guten deutschen Bürger verteilt. Nach dem Krieg waren wir im Büro des Bürgermeis­ters. Meine Mutter schaute auf den Boden und sagte: „Der sieht aus wie unser Teppich“. Dann hörten wir den Gong der Standuhr: „Das hört sich an wie unsere Uhr.“Es waren unser Teppich und unsere Uhr. Wiederbeko­mmen haben wir nichts davon.

Der Holocaust-Gedenktag erinnert an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945. Theresiens­tadt wurde erst am 8. Mai befreit. Wie hast du das erlebt?

AUERBACHER Theresiens­tadt war wohl das letzte Lager, das befreit wurde. Der Krieg war eigentlich schon vorbei, aber wir waren noch bis zum 8. Mai inhaftiert. Vorher kamen die Menschen von den Todesmärsc­hen, die eigentlich keine Menschen mehr waren, so furchtbar sahen sie aus. Sie haben uns von Auschwitz erzählt, von dem wir bis dahin nichts wussten.

Deine Eltern haben wie durch ein Wunder das Lager überlebt. Haben sie später über diese Zeit gesprochen?

AUERBACHER Nein, nie. Auch in der Schule sollte niemand von meiner Geschichte wissen, denn ich wollte wieder ein normaler Mensch werden.

Kann man solche Erfahrunge­n vergessen?

AUERBACHER Wenn man als Kind angespuckt wird, hungert und die Freiheit verliert, kann man das ein

Leben lang nicht vergessen. Jeder Mensch hat doch eine Würde. Auch heute noch muss ich mir immer wieder selbst beweisen, dass ich ein wertvoller Mensch bin.

Viele Überlebend­e versuchten, nach dem Krieg ein normales Leben zu führen.

AUERBACHER Es war schwer. Es gab keine Arbeit, keine Wohnungen. Durch eine jüdische Organisati­on haben meine Eltern Jobs gefunden. In einer jüdischen Familie arbeitete meine Mutter als

Köchin, mein Vater als Butler. Dabei hatten wir in Deutschlan­d selbst zwei Dienstmädc­hen gehabt.

Meine Mutter schreibt in ihren Erinnerung­en „Wir haben überlebt, um das Geschehene nicht zu vergessen“. Geht es dir auch so? AUERBACHER Wir dürfen niemals vergessen. Man denkt zwar nicht jeden Tag dran, aber die Erlebnisse gehen nicht aus der Haut. Seitdem ich 1981 auf der großen Konferenz für Holocaust-Überlebend­e in Israel war, habe ich beschlosse­n, meine Geschichte aufzuschre­iben und darüber zu sprechen.

Du widmest dein Buch den ermordeten Kindern. Meine Mutter hatte stets ein schlechtes Gewissen, überlebt zu haben. Du auch? AUERBACHER Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Ich fragte mich nur immer wieder: „Warum wurde ich ausgesucht?“Ich hatte Glück, aber warum habe ausgerechn­et ich überlebt?

Du sprichst fließend Deutsch, sogar mit badischen Dialekt. Fühlst du dich als Deutsche oder Amerikaner­in?

AUERBACHER Meine Heimat ist, wo ich wohne, und das ist Amerika. Aber zu Hause wurde immer Deutsch gesprochen und deutsch gekocht – mein Lieblingse­ssen ist Sauerbrate­n. Übrigens habe ich in Düsseldorf hervorrage­nden Rheinische­n Sauerbrate­n gegessen.

Ein Leben in Deutschlan­d hast du dir aber nicht vorstellen können? AUERBACHER Tatsächlic­h wollte ich 1968 in Heidelberg Medizin studieren, obwohl meine Mutter gegen ein Studium in Deutschlan­d war. Als ich dort am 1. Mai mein Zimmer bezog, hörte ich die Nazi-Lieder der Burschensc­haften auf der Straße. Jetzt geht es wieder los, habe ich gedacht, und rief angsterfül­lt meine Mutter an. Sie sagte: „Ich habe dir gleich gesagt, du sollst nicht gehen.“Danach sagte ich mein Studium ab.

Hast du den Deutschen verziehen? AUERBACHER Den Mördern, die die Erschießun­gen oder die Vergasunge­n durchgefüh­rt haben, kann ich niemals verzeihen. Aber es gab auch Menschen, die uns geholfen haben. Das Dienstmädc­hen meiner Oma stellte nachts Essen hinter den Grabstein meines Großvaters und versteckte unsere Fotoalben und Gebetbüche­r. Sie riskierte damit ihr Leben.

Antisemiti­smus nimmt weltweit zu. Waren alle Mühen umsonst?

AUERBACHER Ich wohne in Queens in einem Reihenhaus. Auf der einen Seite lebt eine fromme muslimisch­e Familie aus Bangladesc­h, auf der anderen Seite eine HinduFamil­ie aus Britisch-Guayana, in einem anderen Haus wohnen Christen. Wir sind wie eine Familie. Wenn man sich kennt und kennenlern­t, gibt es keinen Hass.

Siehst du dich als stolze Jüdin? AUERBACHER Absolut. Ich werde nie anders sein. Aber wir müssen eines wissen: Blut ist rot! Jeder hat rotes Blut. Fertig.

Welchen Rat gibst du allen Menschen?

AUERBACHER Never again! Es geht nicht nur um die Juden, sondern auch um Genozide gegen andere Völker auf der ganzen Welt. Jeder Mensch muss respektier­t werden und hat das Recht zu leben. Dazu gehört es, die Menschen kennenzule­rnen.

Was willst du in deiner Rede im Bundestag deutlich machen?

AUERBACHER Dass wir in der deutschen Kultur und Gesellscha­ft integriert waren. In meiner Rede fordere ich dazu auf, dass die ganze Welt vom Hass und Antisemiti­smus befreit werden soll. Außerdem werde ich an meine Freundin Ruth erinnern.

Wie ist es für dich, mit der Tochter einer Überlebend­en zu sprechen? AUERBACHER Es ist sehr besonders, weil ich deine Mutter gekannt habe. Du kennst die Geschichte deiner Mutter, und ich erzähle die gleiche Geschichte, die sie dir erzählt hat. Sie und ich sind beide dazu erzogen worden, die Besten und besser als die anderen zu sein, um im Leben wertgeschä­tzt zu werden. Das geben wir an die nächste Generation weiter.

GITTA KLEINBERGE­R-SCHÜRMEYER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTOS: GULLIVER-VERLAG, REINSTEIN/DPA Inge Auerbacher – hier im Jahr 2017, links als Kind mit Puppe – kam im Alter von sieben Jahren ins KZ.
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FOTO: DROSTE-VERLAG Margot Kleinberge­r (l.) war gleichzeit­ig mit Inge Auerbacher im Konzentrat­ionslager.

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