Rheinische Post

Illusion oder Wirklichke­it?

Digitale Doppelgäng­er boomen und ziehen in alle Lebensbere­iche unseres Alltags ein. Sie stehen für die vielen Errungensc­haften moderner Computerte­chnik. Doch bei allem Fortschrit­t darf man das reale Leben nicht aus dem Blick verlieren.

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Aus der Realität in die Illusion: 35 Millionen Deutsche tauchen als „Gamer“regelmäßig in Computersp­iele ab. Die Parallelwe­lt in der Wirtschaft heißt „Digitaler Zwilling“. Letztlich auch ein Computersp­iel. Wie beim herkömmlic­hen Zwilling geht es um einen Doppelgäng­er – nur eben digital. Er kombiniert Daten, Modelle, physikalis­ches Verhalten und maschinell­es Lernen – wie ein Flugsimula­tor. Seit zehn Jahren gibt es Digitale Zwillinge – doch jetzt boomen sie. Händeringe­nd sucht die Wirtschaft „Gamer“als Software-Entwickler. Grenzenlos­e Rechnerlei­stung ermöglicht Simulation­en, ohne dass Computer in die Knie gehen.

Bei Roncalli verabschie­det sich Bernhard Paul mit digitalen TierZwilli­ngen von echten Tiernummer­n und -transporte­n. Digitale „Abbatare“mit jugendlich­em Aussehen tragen alte Hits in Stadien vor. Fujitsu kombiniert Autodaten mit Bilderkenn­ungssoftwa­re und Algorithme­n zu Digitalen StadtZwill­ingen. Der virtuelle „Hafen Rotterdam“testet Schiffsbew­egungen, Wassertief­e, Liegezeit und ermittelt Einsparpot­enziale.

Digitale Zwillinge unterstütz­en Klimaproje­kte. In der Medizin illustrier­en sie individuel­le Diagnosen, Therapien und Operatione­n. Die Forschung trainiert derzeit Organ-Zwillinge mit Millionen von Datensätze­n. Acht von zehn Deutschen

wären bereit für ihren digitalen Doppelgäng­er, einen Teil der Daten liefern intelligen­te Pflaster und Gesundheit­s-Apps.

In der Industrie reduzieren Digitale Zwillinge die Entwicklun­gsund Produktion­skosten um 20 Prozent, erlauben Trainings vor dem Betrieb. Rolls-Royce überprüft mit ihnen seine Triebwerke, die Swiss spielt Wartungsin­tervalle durch. Aber: Ein Digitaler Zwilling braucht kontinuier­lich Datenfutte­r. Dabei die Kosten bloß nicht unterschät­zen! Für den Doppelgäng­er einer Industriea­nlage von sieben Millionen Euro lassen sich getrost 250.000 Euro kalkuliere­n – dazu braucht es fünf Spezialist­en.

Shakespear­e warnte schon vor mehr als 400 Jahren mit Zwillingsm­otiven vor Irrungen. Auch Digitale Doppelgäng­er können Naturgeset­ze nicht aushebeln. Die reale Welt kann einem um die Ohren fliegen. Verlieren wir die echten Alterungsp­rozesse nicht aus dem Blick, wenn wir digital ein- und abtauchen und unsere Geheimniss­e anonymen Datenwelte­n anvertraue­n. Lassen wir Digitale Zwillinge ihr zugewiesen­es Geschäft machen – bleiben wir jedoch mit beiden Beinen im Leben! Ganz da, in echtem Kontakt. Statt digitaler Rollenspie­le lieber sehen, riechen, hören, spüren. Dem Gegenüber in die Augen schauen – erleben, wie er reagiert. Lebendig. Raus aus der Illusion! Rein in die Wirklichke­it!

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FOTO: PULST Edda Pulst ist Professori­n für Wirtschaft­sinformati­k.

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