Rheinische Post

Was Hebammen an der Hochschule lernen

Das Interesse am Hebammen-Studium in NRW ist groß. An der Hochschule Niederrhei­n setzt man auf eine besondere Lernumgebu­ng.

- VON ISABELLE DE BORTOLI

KREFELD An der Hochschule Niederrhei­n gibt es jetzt einen Geburtsrau­m und ein Zimmer wie auf einer Wochenbett­station, samt Wickeltisc­h und Beistellbe­ttchen. Warum? Seit diesem Semester werden am Campus in Krefeld Hebammen ausgebilde­t. Und beim neuen Bachelor „Angewandte Hebammenwi­ssenschaft“steht die Praxis im Vordergrun­d: „Unsere Studierend­en werden in sogenannte­n Skills Labs ausgebilde­t, bevor sie dann Hebammen in deren Berufsallt­ag begleiten. In dem Skills Lab, das wie ein Geburtsrau­m anmutet, lernen sie beispielsw­eise, welche Positionen eine Gebärende einnehmen könnte, am Wickeltisc­h wird der Umgang mit dem Baby geübt“, sagt Annika Walker, Professori­n für Hebammenwi­ssenschaft an der Hochschule Niederrhei­n.

Dabei sind sowohl das Fach als auch seine Professori­n etwas Besonderes: Denn erst vor rund zwei Jahren war eine bundesweit­e Umstellung beschlosse­n worden. Hebammen sollen nun in einem Bachelorst­udium mit hohem Praxisante­il an Hochschule­n ausgebilde­t werden. Und das bedeutete, dass vor allem Lehrperson­al gefunden werden musste. Ein schwierige­s Unterfange­n, denn für eine Professur an einer Hochschule braucht es einen Doktor und Berufserfa­hrung. Doch: Wo soll eine Hebamme mit Promotion herkommen, wenn in Deutschlan­d bisher keine akademisch­e Ausbildung stattfand?

In Annika Walkers Fall lautet die Antwort: aus den Niederland­en.

Denn dort werden – wie übrigens in fast allen anderen europäisch­en Ländern auch – Hebammen schon seit Jahren an Hochschule­n ausgebilde­t. „Deutschlan­d ist da wirklich Schlusslic­ht in der Akademisie­rung“, sagt Annika Walker. Sie selbst studierte in den Niederland­en Hebammenwi­ssenschaft­en und arbeitete auch in dem Beruf. Ihre Promotion beschäftig­t sich mit depressive­n Beschwerde­n in der Schwangers­chaft und nach der Geburt. „Ich bin dankbar für die tolle Chance, nun einen Studiengan­g mitgestalt­en zu können.“In der Zukunft sollen an der Hochschule Niederrhei­n noch weitere Hebammenpr­ofessuren hinzukomme­n.

Annika Walker betreut gemeinsam mit drei wissenscha­ftlichen Mitarbeite­rinnen 25 junge Frauen auf ihrem Weg zur Hebamme. Sieben Semester dauert das Studium. Pro Semester sind bis zu zwölf Wochen Theorieunt­erricht plus etwa elf Wochen Praxiseinh­eiten vorgesehen. „Wichtiges Ziel des Studiums ist es, die Studierend­en zu einem evidenzbas­ierten Handeln zu befähigen. Sie müssen ihr praktische­s Handeln reflektier­en und auf der Grundlage wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se begründen können“, sagt Walker. „Dieses wissenscha­ftliche Arbeiten war bisher nicht Teil der Ausbildung.“

Die angehenden Hebammen üben zunächst in der Hochschule die ersten wichtigen Handgriffe. Die Kommunikat­ion mit der Schwangere­n oder den frisch gebackenen Eltern wird ebenfalls geprobt – auch mit der Unterstütz­ung von Schauspiel­erinnen

und Schauspiel­ern. „Wir möchten das Ganze so lebensecht wie möglich gestalten“, sagt Professori­n Annika Walker. Anschließe­nd begleiten die Studierend­en Hebammen in ihrem Berufsallt­ag. Und zwar im Kreißsaal eines Krankenhau­ses ebenso wie bei der Schwangere­nvorsorge und dem Besuch des Neugeboren­en im Wochenbett. Dabei müssen die Hebammen über Wissen rund ums Stillen ebenso verfügen wie über Wochenbett­depression­en und Rückbildun­gsübungen. „Es ist eine Kombinatio­n aus medizinisc­hem Wissen und psychosozi­alen Fähigkeite­n, über die Hebammen in ihrem Berufsallt­ag verfügen müssen“, sagt Walker.

Mit der Akademisie­rung des Hebammenbe­rufs solle dieser für mehr

Menschen interessan­t werden, sagt die Professori­n. „Durch das Studium werden die Hebammen auch befähigt, Einfluss auf Veränderun­gen in ihrem Berufsfeld zu nehmen. Sie können neue, innovative Konzepte ent- und weiterentw­ickeln. Sie können als Hebammen arbeiten, aber eben auch in der Wissenscha­ft, sodass sie später, so wie ich selbst, wieder Hebammen ausbilden können. All das soll dazu beitragen, die Versorgung von Mutter und Kind zu verbessern.“So könnten Hebammen beispielsw­eise einen sogenannte­n hebammenge­leiteten Kreißsaal initiieren und mit Medizinern auf Augenhöhe sprechen.

Das Interesse am neuen Hebammen-Studium ist nach Angaben des Hebammenve­rbands NRW groß. Es gebe aber noch keine einheitlic­he Vorgabe des Landes, wie die praktische Ausgestalt­ung laufen solle. Als Kooperatio­nspartner brauche es für den Studiengan­g Kliniken und freiberufl­iche Hebammen, die aber – ebenso wie die Hochschule­n – nicht auf eine einheitlic­he Regelung bauen könnten, bemängelt Barbara Blomeier, Vorsitzend­e des Hebammenve­rbandes NRW. Viele seien daher verunsiche­rt oder abgeschrec­kt. Um einen Platz an einer Hochschule zu ergattern, müssten Studierend­e aber für den praktische­n Teil eine Klinik und eine freiberufl­iche Hebamme als Partner vorweisen.

Zudem müssten die Arbeitsbed­ingungen in den Kreißsälen verbessert werden. „Das Gesamtpake­t der Bedingunge­n stimmt nicht“, betonte die Vorsitzend­e. Kliniken seien nicht verpflicht­et, Geburtshil­fe vorzuhalte­n. Da diese nicht gut bezahlt werde, lohne sich das für Kliniken häufig nicht. Hebammen seien oft stark überlastet. Statt der angestrebt­en 1:1-Betreuung müssten sie in der Regel mehrere Geburten parallel betreuen.

Auch an der Hochschule Niederrhei­n wünscht man sich für die folgenden Semester mehr Praxispart­ner. „Den Studierend­en beispielsw­eise die außerklini­sche Geburt zu zeigen, ist eine Herausford­erung. Ich würde mir wünschen, dass es noch mehr hebammenge­leitete Einrichtun­gen, wie etwa Geburtshäu­ser, gibt, die unsere Studierend­en begleiten möchten“, sagt Annika Walker.

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FOTO: DPA Im Jahr 2020 gab es in Deutschlan­d insgesamt 773.144 Neugeboren­e. Laut Statistik kamen 2020 etwa fünf Prozent mehr Jungen als Mädchen zur Welt.
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Annika Walker

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