Wie ein strahlendes Fass ohne Boden
Auf Betreiben Frankreichs soll die Kernenergie als nachhaltig eingestuft werden. Dabei verursacht die Modernisierung der Atomkraftwerke hohe Kosten.
PARIS Das Jahr 2022 sollte endlich den Erfolg bringen. Doch auch in den kommenden zwölf Monaten wird der erste Druckwasserreaktor Frankreichs in Flamanville am Ärmelkanal nicht ans Netz gehen. Erst vor wenigen Tagen schob der Stromkonzern EDF die Inbetriebnahme erneut hinaus – diesmal von Ende 2022 auf das zweite Quartal 2023. Die Kosten für das Pannenprojekt, an dem seit 2007 gebaut wird, haben sich inzwischen von drei auf 12,7 Milliarden Euro vervierfacht. Obwohl der Rechnungshof diese finanzielle „Entgleisung“scharf kritisierte, sieht Emmanuel Macron im sogenannten EPR die Zukunft. Frankreich wolle weitere Reaktoren bauen, kündigte der Präsident in einer Grundsatzrede im Herbst an. Anders als Deutschland mit seinem Atomausstieg setzt Frankreich auf noch mehr Kernenergie.
Atomstrom soll auf Betreiben Frankreichs sogar von der EUKommission in die Liste nachhaltiger Übergangstechnologien aufgenommen werden. Diese Taxonomie, die auch Gas einschließen soll, sorgt für heftige Reaktionen. „Es ist keine passende Strategie für die drängende Situation des Klimawandels, auf neue Reaktoren zu setzen, die teuer, langsam im Bau und riskant sind“, kritisiert die Anti-Atom-Organisation Sortir du Nucléaire. Sie hat allerdings einen schweren Stand, denn Atomkraftgegner werden in Frankreich derzeit kaum gehört. Im Präsidentschaftswahlkampf setzen 80 Prozent aller Kandidatinnen und Kandidaten ähnlich wie Macron voll auf die Kernenergie.
Sie tun das, weil sie wissen, dass sie eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben. „Kurz- und mittelfristig herrscht ein großer politischer und öffentlicher Konsens, mit der Atomkraft erst einmal weiterzumachen“, sagt der Energieexperte Jan-Horst Keppler, der an der Pariser Universität Dauphine lehrt.
Der Klimaschutz ist eines der wichtigsten Argumente, mit denen die Regierung für „le nucléaire“wirbt. „Die französische Energieproduktion ist eine der CO2-ärmsten der Welt. Warum? Dank der Atomkraft“, rühmte sich Emmanuel Macron immer wieder. Der CO2-Ausstoß pro Person liegt in Frankreich mit 6,5 Tonnen deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 8,4 Tonnen. Dennoch verfehlt auch Frankreich die EU-Klimaziele: „Die aktuellen
Anstrengungen sind unzureichend, um das Erreichen der Ziele zu garantieren“, kritisierte der Klimarat, ein unabhängiges Expertengremium, im Juni.
Mit 56 Reaktoren und einem Atomstromanteil von gut 70 Prozent ist Frankreich das Atomkraftland Nummer eins in Europa. Mehr als 50 Jahre nach der Inbetriebnahme der ersten Atomkraftwerke gehört die Nuklearindustrie immer noch zum Stolz der Nation. Erst vor einem Jahr sprach sich die Atomsicherheitsbehörde
ASN dafür aus, die Laufzeit von 32 Reaktoren mit einer 900-Megawatt-Leistung von 40 auf 50 Jahre zu erhöhen.
Renovierung und Neubau von Reaktoren kosten die hoch verschuldete EDF allerdings ungeheuer viel Geld. Das Programm des „grand carénage“, mit dem der Konzern seine Reaktoren modernisieren will, wird auf rund 50 Milliarden Euro beziffert. Dazu kommt der Bau neuer EPR-Reaktoren, der laut EDF 46 Milliarden Euro verschlingen dürfte.
Die Einstufung der Atomenergie als „nachhaltig“soll nun Anreize für Investoren schaffen, auch wenn sich laut Experten die Auswirkungen in Grenzen halten dürften. „Es ist ein Fehler, zu meinen, dass die Taxonomie tiefgreifend Kapitalflüsse restrukturiert“, sagt Wirtschaftsprofessor Keppler.
Auch wenn Frankreich weiter auf Atomkraft setzt, brachte der sozialistische Präsident François Hollande bereits im Jahr 2015 eine Energiewende im Gang. Ursprünglich bis 2023 sollte der Anteil der Kernenergie am Strommix auf 50 Prozent heruntergefahren werden. Doch es wurde schnell klar, dass das ehrgeizige Ziel nicht zu halten ist. Derzeit steuern die erneuerbaren Energieformen gerade einmal knapp 20 Prozent zur Stromerzeugung bei. Das liegt sowohl an massiven Widerständen gegen die Windenergie im Land als auch an langen Genehmigungsverfahren. Selbst das Jahr 2035, Macrons neues Zieldatum, scheint damit unerreichbar.