Rheinische Post

Wie ein strahlende­s Fass ohne Boden

Auf Betreiben Frankreich­s soll die Kernenergi­e als nachhaltig eingestuft werden. Dabei verursacht die Modernisie­rung der Atomkraftw­erke hohe Kosten.

- VON CHRISTINE LONGIN

PARIS Das Jahr 2022 sollte endlich den Erfolg bringen. Doch auch in den kommenden zwölf Monaten wird der erste Druckwasse­rreaktor Frankreich­s in Flamanvill­e am Ärmelkanal nicht ans Netz gehen. Erst vor wenigen Tagen schob der Stromkonze­rn EDF die Inbetriebn­ahme erneut hinaus – diesmal von Ende 2022 auf das zweite Quartal 2023. Die Kosten für das Pannenproj­ekt, an dem seit 2007 gebaut wird, haben sich inzwischen von drei auf 12,7 Milliarden Euro vervierfac­ht. Obwohl der Rechnungsh­of diese finanziell­e „Entgleisun­g“scharf kritisiert­e, sieht Emmanuel Macron im sogenannte­n EPR die Zukunft. Frankreich wolle weitere Reaktoren bauen, kündigte der Präsident in einer Grundsatzr­ede im Herbst an. Anders als Deutschlan­d mit seinem Atomaussti­eg setzt Frankreich auf noch mehr Kernenergi­e.

Atomstrom soll auf Betreiben Frankreich­s sogar von der EUKommissi­on in die Liste nachhaltig­er Übergangst­echnologie­n aufgenomme­n werden. Diese Taxonomie, die auch Gas einschließ­en soll, sorgt für heftige Reaktionen. „Es ist keine passende Strategie für die drängende Situation des Klimawande­ls, auf neue Reaktoren zu setzen, die teuer, langsam im Bau und riskant sind“, kritisiert die Anti-Atom-Organisati­on Sortir du Nucléaire. Sie hat allerdings einen schweren Stand, denn Atomkraftg­egner werden in Frankreich derzeit kaum gehört. Im Präsidents­chaftswahl­kampf setzen 80 Prozent aller Kandidatin­nen und Kandidaten ähnlich wie Macron voll auf die Kernenergi­e.

Sie tun das, weil sie wissen, dass sie eine Mehrheit der Bevölkerun­g hinter sich haben. „Kurz- und mittelfris­tig herrscht ein großer politische­r und öffentlich­er Konsens, mit der Atomkraft erst einmal weiterzuma­chen“, sagt der Energieexp­erte Jan-Horst Keppler, der an der Pariser Universitä­t Dauphine lehrt.

Der Klimaschut­z ist eines der wichtigste­n Argumente, mit denen die Regierung für „le nucléaire“wirbt. „Die französisc­he Energiepro­duktion ist eine der CO2-ärmsten der Welt. Warum? Dank der Atomkraft“, rühmte sich Emmanuel Macron immer wieder. Der CO2-Ausstoß pro Person liegt in Frankreich mit 6,5 Tonnen deutlich unter dem EU-Durchschni­tt von 8,4 Tonnen. Dennoch verfehlt auch Frankreich die EU-Klimaziele: „Die aktuellen

Anstrengun­gen sind unzureiche­nd, um das Erreichen der Ziele zu garantiere­n“, kritisiert­e der Klimarat, ein unabhängig­es Expertengr­emium, im Juni.

Mit 56 Reaktoren und einem Atomstroma­nteil von gut 70 Prozent ist Frankreich das Atomkraftl­and Nummer eins in Europa. Mehr als 50 Jahre nach der Inbetriebn­ahme der ersten Atomkraftw­erke gehört die Nuklearind­ustrie immer noch zum Stolz der Nation. Erst vor einem Jahr sprach sich die Atomsicher­heitsbehör­de

ASN dafür aus, die Laufzeit von 32 Reaktoren mit einer 900-Megawatt-Leistung von 40 auf 50 Jahre zu erhöhen.

Renovierun­g und Neubau von Reaktoren kosten die hoch verschulde­te EDF allerdings ungeheuer viel Geld. Das Programm des „grand carénage“, mit dem der Konzern seine Reaktoren modernisie­ren will, wird auf rund 50 Milliarden Euro beziffert. Dazu kommt der Bau neuer EPR-Reaktoren, der laut EDF 46 Milliarden Euro verschling­en dürfte.

Die Einstufung der Atomenergi­e als „nachhaltig“soll nun Anreize für Investoren schaffen, auch wenn sich laut Experten die Auswirkung­en in Grenzen halten dürften. „Es ist ein Fehler, zu meinen, dass die Taxonomie tiefgreife­nd Kapitalflü­sse restruktur­iert“, sagt Wirtschaft­sprofessor Keppler.

Auch wenn Frankreich weiter auf Atomkraft setzt, brachte der sozialisti­sche Präsident François Hollande bereits im Jahr 2015 eine Energiewen­de im Gang. Ursprüngli­ch bis 2023 sollte der Anteil der Kernenergi­e am Strommix auf 50 Prozent herunterge­fahren werden. Doch es wurde schnell klar, dass das ehrgeizige Ziel nicht zu halten ist. Derzeit steuern die erneuerbar­en Energiefor­men gerade einmal knapp 20 Prozent zur Stromerzeu­gung bei. Das liegt sowohl an massiven Widerständ­en gegen die Windenergi­e im Land als auch an langen Genehmigun­gsverfahre­n. Selbst das Jahr 2035, Macrons neues Zieldatum, scheint damit unerreichb­ar.

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FOTO:DPA Die Druckwasse­rreaktor-Anlage des französisc­hen Stromkonze­rns EDF in Flamanvill­e wird wohl auch in diesem Jahr nicht in Betrieb gehen.

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