Eine Schulstunde nur fürs Testen
Das veränderte Prozedere an den Grundschulen verursacht bei Eltern, Lehrern und Kindern Verunsicherung.
WUPPERTAL In der ersten Unterrichtsstunde des Tages müssen die Kinder an der Grundschule Am Nützenberg in Wuppertal nichts lernen, sondern sich auf Corona testen. „Rund 45 Minuten fallen dadurch weg“, sagt Schulleiter Richard Voß. Mit dem geänderten Verfahren, das nach einem positiven Pooltest vorsieht, dass die Schüler selbst einen Schnelltest bei sich vornehmen, dauere es noch länger. „Diese Sets sind ja nicht für Kinder von sechs bis zehn Jahren gedacht, viele bekommen sie nicht geöffnet, verschütten die Flüssigkeit oder führen das Stäbchen nicht richtig in die Nase“, sagt Voß. So müssten die Lehrer dafür sorgen, dass alles ordnungsgemäß abläuft. Das sei aber eigentlich nicht ihre Aufgabe, erklärt der Schulleiter. „Wir wollen unterrichten.“
In Wuppertal, Düsseldorf und in anderen NRW-Städten haben viele Grundschulen zeitweilig weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt, als Zeichen des Protests gegen das neue Testprozedere. Seit Dienstag werden nach einem positiven Pool-Ergebnis die betroffenen Schüler nur noch mit einem Schnelltest überprüft und nicht mehr durch eine PCR-Analyse im Labor. Die Anweisung dazu kam am Dienstagabend vom Schulministerium und musste am nächsten Tag umgesetzt werden. „Das erzeugt großen Frust und Verunsicherung, sowohl bei Lehrern als auch bei Eltern“, sagt Voß, der für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)imLeitungsteamWuppertal sitzt. Bei einem positiven Pooltest wissen die Lehrer also beim Nachtesten, dass sie mindestens einen positiven Schüler im Klassenzimmer haben. „Viele Kollegen haben Angst, sich anzustecken“, sagt Voß.
Auch Claudia Sieker, Leiterin der Thomas-Edison-Realschule in Düsseldorf, beklagt den erheblichen Zeitaufwand, der für die Testungen aufgebracht werden muss. Sie müsse mittlerweile auch deutlich mehr Gespräche mit den Erziehungsberechtigten führen. „Die Eltern haben mehr Nachfragen und Sorgen wegen der aktuellen Lage. Auch fallen vermehrt Lehrer aus, weil ihre eigenen Kinder in Quarantäne müssen und sie diese dann zu Hause betreuen müssen. Das ist mit erheblicher Mehrarbeit für alle verbunden“, sagt sie. Neben den Lehrkräften fehlen aber auch Kinder, die in Quarantäne müssen – an der Schule von Voß in Wuppertal sind es rund 15 Prozent, an manchen Schulen seien es deutlich mehr.
Viele Eltern fordern, die Präsenzpflicht an den Schulen auszusetzen. Anke Staar, Vorsitzende der Landeselternkonferenz
NRW, plädiert dafür, die Schulen offenzuhalten, zeigt aber auch Verständnis für besorgte Eltern. Zu lange schon laste großer Druck auf Kindern und Eltern. „Um diesen Konflikt etwas zu befrieden, ist es wichtig, dass Hybridangebote ermöglicht werden“, sagt Staar: „Also eine Aussetzung der Präsenzpflicht, wenn es nach der Infektionslage geboten ist.“
Auf Twitter haben sich unzufriedene Eltern unter dem Hashtag #coronaeltern organisiert. „Seit fast zwei Wochen sind meine Familie und ich mit Corona zu Hause, und ab Montag kommen eingeschränkte Kita-Öffnungszeiten und Schließungen auf uns zu. Auskurieren, Geld verdienen, Ausfälle aufholen – wann und wie?“, schreibt eine Mutter. Eine andere Frau schreibt aus Frust: „Ich habe soeben die Kita-Whatsapp-Gruppe angezündet.“Noch bis morgen läuft dort eine Abstimmung, wie erschöpft Eltern nach zwei Jahren Pandemie seien, die vier Antwortmöglichkeiten: Nicht erschöpft, etwas erschöpft, sehr erschöpft oder ausgebrannt.
Auch Staar berichtet von verzweifelten Eltern, aber auch von Lehrern, die mit ihren Schülern weinen, weil vier oder sechs Kinder positiv getestet sind. Sabine Mistler, Vorsitzendes Philologenverbands NRW, führt das auch auf den psychischen Druck zurück, der schon lange auf den Lehrern laste. Ständig müssten sich die Lehrer an neue Anforderungen anpassen. „Dabei werden ihnen auch zunehmend fachfremde Aufgaben übertragen“, sagt Mistler. „Das geht mittlerweile über die Grenzen des Machbaren hinaus – und da ist die Landesregierung gefordert, diese Grenzen aufzuzeigen.“
Schulleiter Voß aus Wuppertal fühlt sich von der Landesregierung im Stich gelassen. Statt jede Schule selbst entscheiden zu lassen, wie sie mit der Situation umgeht, wünscht er sich einen Stufenplan als Handlungshilfe. Zum Beispiel, wann man die Stunden reduzieren und wann auf Distanzunterricht ausweichen solle: „Ich kann von den Behörden erwarten, dass es dazu Ideen gibt. Denn unser Ziel muss es doch sein, die Kinder zu schützen.“