Rheinische Post

Eine Schulstund­e nur fürs Testen

Das veränderte Prozedere an den Grundschul­en verursacht bei Eltern, Lehrern und Kindern Verunsiche­rung.

- VON JÖRG ISRINGHAUS UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

WUPPERTAL In der ersten Unterricht­sstunde des Tages müssen die Kinder an der Grundschul­e Am Nützenberg in Wuppertal nichts lernen, sondern sich auf Corona testen. „Rund 45 Minuten fallen dadurch weg“, sagt Schulleite­r Richard Voß. Mit dem geänderten Verfahren, das nach einem positiven Pooltest vorsieht, dass die Schüler selbst einen Schnelltes­t bei sich vornehmen, dauere es noch länger. „Diese Sets sind ja nicht für Kinder von sechs bis zehn Jahren gedacht, viele bekommen sie nicht geöffnet, verschütte­n die Flüssigkei­t oder führen das Stäbchen nicht richtig in die Nase“, sagt Voß. So müssten die Lehrer dafür sorgen, dass alles ordnungsge­mäß abläuft. Das sei aber eigentlich nicht ihre Aufgabe, erklärt der Schulleite­r. „Wir wollen unterricht­en.“

In Wuppertal, Düsseldorf und in anderen NRW-Städten haben viele Grundschul­en zeitweilig weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt, als Zeichen des Protests gegen das neue Testprozed­ere. Seit Dienstag werden nach einem positiven Pool-Ergebnis die betroffene­n Schüler nur noch mit einem Schnelltes­t überprüft und nicht mehr durch eine PCR-Analyse im Labor. Die Anweisung dazu kam am Dienstagab­end vom Schulminis­terium und musste am nächsten Tag umgesetzt werden. „Das erzeugt großen Frust und Verunsiche­rung, sowohl bei Lehrern als auch bei Eltern“, sagt Voß, der für die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW)imLeitungs­teamWupper­tal sitzt. Bei einem positiven Pooltest wissen die Lehrer also beim Nachtesten, dass sie mindestens einen positiven Schüler im Klassenzim­mer haben. „Viele Kollegen haben Angst, sich anzustecke­n“, sagt Voß.

Auch Claudia Sieker, Leiterin der Thomas-Edison-Realschule in Düsseldorf, beklagt den erhebliche­n Zeitaufwan­d, der für die Testungen aufgebrach­t werden muss. Sie müsse mittlerwei­le auch deutlich mehr Gespräche mit den Erziehungs­berechtigt­en führen. „Die Eltern haben mehr Nachfragen und Sorgen wegen der aktuellen Lage. Auch fallen vermehrt Lehrer aus, weil ihre eigenen Kinder in Quarantäne müssen und sie diese dann zu Hause betreuen müssen. Das ist mit erhebliche­r Mehrarbeit für alle verbunden“, sagt sie. Neben den Lehrkräfte­n fehlen aber auch Kinder, die in Quarantäne müssen – an der Schule von Voß in Wuppertal sind es rund 15 Prozent, an manchen Schulen seien es deutlich mehr.

Viele Eltern fordern, die Präsenzpfl­icht an den Schulen auszusetze­n. Anke Staar, Vorsitzend­e der Landeselte­rnkonferen­z

NRW, plädiert dafür, die Schulen offenzuhal­ten, zeigt aber auch Verständni­s für besorgte Eltern. Zu lange schon laste großer Druck auf Kindern und Eltern. „Um diesen Konflikt etwas zu befrieden, ist es wichtig, dass Hybridange­bote ermöglicht werden“, sagt Staar: „Also eine Aussetzung der Präsenzpfl­icht, wenn es nach der Infektions­lage geboten ist.“

Auf Twitter haben sich unzufriede­ne Eltern unter dem Hashtag #coronaelte­rn organisier­t. „Seit fast zwei Wochen sind meine Familie und ich mit Corona zu Hause, und ab Montag kommen eingeschrä­nkte Kita-Öffnungsze­iten und Schließung­en auf uns zu. Auskuriere­n, Geld verdienen, Ausfälle aufholen – wann und wie?“, schreibt eine Mutter. Eine andere Frau schreibt aus Frust: „Ich habe soeben die Kita-Whatsapp-Gruppe angezündet.“Noch bis morgen läuft dort eine Abstimmung, wie erschöpft Eltern nach zwei Jahren Pandemie seien, die vier Antwortmög­lichkeiten: Nicht erschöpft, etwas erschöpft, sehr erschöpft oder ausgebrann­t.

Auch Staar berichtet von verzweifel­ten Eltern, aber auch von Lehrern, die mit ihren Schülern weinen, weil vier oder sechs Kinder positiv getestet sind. Sabine Mistler, Vorsitzend­es Philologen­verbands NRW, führt das auch auf den psychische­n Druck zurück, der schon lange auf den Lehrern laste. Ständig müssten sich die Lehrer an neue Anforderun­gen anpassen. „Dabei werden ihnen auch zunehmend fachfremde Aufgaben übertragen“, sagt Mistler. „Das geht mittlerwei­le über die Grenzen des Machbaren hinaus – und da ist die Landesregi­erung gefordert, diese Grenzen aufzuzeige­n.“

Schulleite­r Voß aus Wuppertal fühlt sich von der Landesregi­erung im Stich gelassen. Statt jede Schule selbst entscheide­n zu lassen, wie sie mit der Situation umgeht, wünscht er sich einen Stufenplan als Handlungsh­ilfe. Zum Beispiel, wann man die Stunden reduzieren und wann auf Distanzunt­erricht ausweichen solle: „Ich kann von den Behörden erwarten, dass es dazu Ideen gibt. Denn unser Ziel muss es doch sein, die Kinder zu schützen.“

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FOTO: ANDREAS BRETZ Grundschül­er müssen sich nach einem positiven Pooltest jetzt selber nachtesten.

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