„Da kann man nervös werden“
Der Grünen-Außenpolitiker über das russische Aufrüsten und den Aufbruch seiner Partei zu neuen Ufern.
Herr Trittin, Vizekanzler Habeck hält den Konflikt mit Russland für brenzliger als zur Zeit des Kalten Krieges. Teilen Sie diese Ansicht? TRITTIN Die Lage ist gefährlich. Die Russen haben den weit überwiegenden Teil ihrer Kampfeinheiten an der Grenze zur Ukraine und in Manövern in Belarus stationiert. Schon das kleinste Fehlverhalten kann da eine Kettenreaktion auslösen, auch wenn das vielleicht nicht beabsichtigt wäre. Deswegen ist die Lage so brisant, da kann man schon nervös werden. Dennoch glaube ich, dass die geschlossene Reaktion Europas und die Abstimmung Europas mit den USA eine Sache deutlich gemacht hat: Es ist Russland nicht gelungen, Europa und den Westen zu spalten. Das heißt im Umkehrschluss, dass Russland bei einem Grenzübertritt die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Europa ernsthaft infrage stellt. Das ist geostrategisch für Russland ein echtes Problem. Öl und Gas sind die Grundlagen ihres Staatshaushaltes und der Kreml-Herrschaft. Deswegen gehe ich derzeit eher nicht von einer vorsätzlichen militärischen Operation Russlands im großen Stil aus. Aber das ist eine offene Frage.
Außenministerin Baerbock ist Mitglied einer Friedenspartei. Müssen die Grünen ihr sicherheitspolitisches Verständnis neu justieren? TRITTIN Gerade in den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass die Grünen in dieser Frage die realpolitischere Position haben als die SPD. Wir haben sehr früh gesagt, dass die Idee von Wandel durch Handel gescheitert ist. Wir haben auch gesagt, dass wir auf die Verletzung der ukrainischen Souveränität durch russische Truppen nicht militärisch antworten. Aber auch, dass ein solches Vorgehen einen sehr hohen Preis haben wird, und dass dazu alle Maßnahmen auf den Tisch gehören. Diese Position vertritt inzwischen auch der Bundeskanzler sehr klar. Wir sind nicht diejenigen, die in dieser Frage so viel dazulernen mussten.
Wie sehr belastet der ungeklärte Umgang der SPD die Ampel?
TRITTIN Sowohl Grüne als auch SPD haben immer den Grundgedanken geteilt, mit Russland im Dialog zu bleiben, aber über Grundprinzipien nicht zu verhandeln.
Bisher schlug Angela Merkel die Brücke zu Putin, nun übernimmt Macron. Ist Olaf Scholz dabei, die Vermittlerrolle zu verspielen? TRITTIN Nein, Deutschland ist das westliche Land, das am meisten zur makroökonomischen Stabilisierung der Ukraine beiträgt. Wir machen mehr als die USA und alle anderen europäischen Länder. Das wissen auch unsere ukrainischen Freunde. Nun fanden auch Gespräche im Normandie-Format auf Beraterebene statt, da saß jemand aus dem Kanzleramt am Tisch. Man baut hier auf dem auf, wofür Annalena Baerbock bei ihren Amtskollegen in Moskau
und Kiew die Türen geöffnet hat. Da bin ich ganz zufrieden mit meinem Kanzler. Aus der Bundesregierung kommt hier ein sehr klares und einheitliches Signal.
Erwarten Sie beim Parteitag Diskussionen wegen der Ermittlungen gegen den Bundesvorstand?
TRITTIN Nein, das ist für uns mit dem Bericht des Grünen-Finanzrats abgeschlossen. Die entsprechenden Zahlungen sind zurückgeflossen. Ich rechne damit, dass das strafrechtliche Verfahren eingestellt wird.
Sollten die neuen Parteichefs den Kurs von Baerbock und Habeck fortführen?
TRITTIN Davon würde ich ihnen dringend abraten.
Wozu würden Sie stattdessen raten? TRITTIN Die Partei ist jetzt in einer völlig neuen Situation. Robert und Annalena hatten das Projekt, die Grünen nach 16 Jahren wieder in die Regierung zu führen. Das haben sie großartig hinbekommen. Jetzt, in einer Regierungsbeteiligung, braucht die Parteispitze aber einen anderen Plan. Das Mitnehmen der Partei durch Schwierigkeiten und notwendige Kompromisse einer Regierung ist eine extreme Herausforderung. Wir haben damit nicht nur gute Erfahrungen gemacht. In der ersten Regierungsbeteiligung hatten wir zum Teil Vorstände, die von vielen in der eigenen Partei und auch vom Koalitionspartner nicht ernst genommen wurden. Das kann nicht gut gehen.
Wie kann es Ricarda Lang und Omid Nouripour gelingen?
TRITTIN Die große Herausforderung für Ricarda und Omid wird sein, die Partei so aufzustellen, dass die von beiden Koalitionspartnern ernst genommen wird. Und dass gleichzeitig die Partei bereit ist, ihnen auch durch notwendige schwierige Kompromisse zu folgen. Beide müssen eine eigene Stärke entwickeln. Dazu bedarf es eines hohen Maßes an Geschlossenheit. Dazu ist es aber von Vorteil, dass beide explizit zwei unterschiedlichen Parteiströmungen angehören. Ein Hardcore-Reformer wie Omid bindet in seinem Milieu. Ganz ähnlich gilt das für Ricarda und die Parteilinke. Die beiden werden gemeinsam mit den beiden Fraktionsvorsitzenden die Übermacht der Regierung ausbalancieren müssen. Den Berg haben wir erklommen. Jetzt geht es darum, den Höhenweg zu gehen.