Widersprüchliche Gleichzeitigkeit
Es herrscht Krieg – doch hier geht auch der Alltag weiter. Wie geht man damit um?
Der Krieg in der Ukraine bedeutet unermessliches Leid für die Menschen, die der Gewalt ausgesetzt sind und jene, die fliehen müssen. Dieses Leid rückt uns nahe, wir hören von Schicksalen, sehen die Bilder in Echtzeit, und in vielen Städten kommen nun auch Geflüchtete an, die ihre Ängste und Traumatisierungen mitbringen. Das alles macht traurig, kann wütend und sprachlos machen. Und dann gibt es diese andere Wirklichkeit: Der Alltag geht weiter, das Familienleben, der Job.
Man geht zum Einkauf und denkt an jene, denen Essensvorräte und sogar das Wasser ausgehen. Man freut sich am Frühling und hat Menschen vor Augen, die sich nicht weit von hier auf Fluchtkorridore wagen und dann doch wieder beschossen werden. Wie soll man mit dieser Gleichzeitigkeit umgehen? Nicht mehr hinschauen? Sich weniger aussetzen, weil man nichts ändern kann?
Jeder muss sein eigenes Maß finden, mit den Nachrichten aus der Ukraine umzugehen. Und natürlich ist niemandem geholfen, wenn sich Leute, die das Glück haben, in Frieden zu leben, die scheinbar harmlose Freude am Frühling versagen. Viel Leid auf anderen Kontinenten blenden wir ohnehin jeden Tag aus. Doch hat es mit Verantwortung zu tun, zur Kenntnis zu nehmen, was in der Ukraine geschieht, sich nach Möglichkeiten ein breites Bild zu verschaffen und darüber nachzudenken, was wir gerade erleben. Das ist genau der Unterschied zum Leben in totalitären Staaten: Die freie, westliche Welt ringt mit vielen Problemen. Eines davon ist Hybris.
Aber in Demokratien ist jeder Einzelne gefordert, die Ereignisse mündig zu verfolgen. Das ist belastend, aber es ist auch ein Privileg. Den Betroffenen hilft das nicht, schon wahr. Aber es gibt genügend Möglichkeiten, sich jetzt nützlich zu machen. Auch das hilft gegen Ohnmacht. Und es hilft jenen, die sich retten konnten.