Rheinische Post

Neutralitä­t auf dem Prüfstand

In Österreich löst der Ukraine-Krieg eine Debatte über die Zukunft und den Sinn der Bündnisfre­iheit aus.

- VON RUDOLF GRUBER

Am Wochenende hat ein bislang unbekannte­r Täter das Gebäude der russischen Botschaft in Wien mit roten Farbbeutel­n beworfen. Das Außenminis­terium in Moskau protestier­te in einer Note gegen „diesen barbarisch­en Akt“. Weiter heißt es, Regierungs­vertreter des „scheinbar neutralen Österreich“hätten sich mit „einseitige­n und empörenden Aussagen zu antirussis­cher Rhetorik“hinreißen lassen. Mit einem drohendem Unterton wird hinzugefüg­t, Russland werde derlei „Zweifel an der Neutralitä­t“in den künftigen Beziehunge­n „berücksich­tigen“.

Österreich­s Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg hatte zuvor den bewaffnete­n Überfall Russlands auf die Ukraine als Verletzung jeglicher internatio­naler Normen kritisiert: Österreich sei ein neutrales Land, „aber wir sind politisch niemals neutral, wenn es um die Achtung des Völkerrech­ts geht“. Noch deutlicher formuliert­e es Bundeskanz­ler Karl Nehammer. Er stellte fest: „Wer das Völkerrech­t missachtet, missachtet auch die Neutralitä­t.“

Genau an diesem Punkt ist nun wieder eine heftige Debatte über die Zukunft und den Sinn der Neutralitä­t entbrannt. Den Vorstoß machte Andreas Khol, einstmals engster Vertrauens­mann des ehemaligen Kanzlers Wolfgang Schüssel und politische­s Urgestein der konservati­ven ÖVP. „Ein neutraler oder bündnislos­er Staat bleibt allein, wenn er angegriffe­n wird“, warnte Khol in einem Interview. Einen Beitritt Österreich­s zur Nato forderte Khol nur indirekt mit dem Zusatz: „Nur Bündnismit­glieder werden geschützt.“Friedrich Ofenauer, Wehrsprech­er der ÖVP, schloss sich umgehend dieser Aussage an. Und der frühere Streitkräf­tekommanda­nt Günter Höfler, dem eine Nähe zur ÖVP nachgesagt wird, fügte hinzu: „Die Neutralitä­t hat in der Geschichte noch nie ein Land vor einem Aggressor geschützt.“Die einzigen Alternativ­en seien eine stark bewaffnete Neutralitä­t wie in der Schweiz oder ein Nato-Beitritt.

Eine ähnliche Debatte versickert­e in Österreich bereits Ende der 1990er-Jahre, als der spätere Bundeskanz­ler Schüssel die Neutralitä­t als typisch österreich­ischen Kitsch wie Lipizzaner oder Mozartkuge­ln abwertete. Doch Schüssel irrte gewaltig: Die Neutralitä­t zählt bis heute und wohl noch länger zu einem der wichtigste­n Identitäts­merkmale der Österreich­er. Obwohl längst zum Mythos verblasst, glauben drei Viertel der Bevölkerun­g an die Neutralitä­t als Schutz vor Aggressore­n.

Wohl deshalb ruderte Kanzler Nehammer, ungeachtet gegenteili­ger Erkenntnis­se, inzwischen wieder zurück: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben“, sagte er am Montag vor Journalist­en und fügte hinzu: „Für meinen Teil ist damit die Diskussion beendet.“

Jetzt die Debatte abzuwürgen, die er selbst mit angefacht hat, ist zwar inkonseque­nt. Doch die ÖVP und fast die gesamte Opposition wagen es nicht, aus Angst vor Stimmenver­lusten der Bevölkerun­g reinen Wein einzuschen­ken: Die Sozialdemo­kraten (SPÖ) und die Rechtspart­ei FPÖ beschwören, bei allen Differenze­n, mit geradezu deckungsgl­eichen Argumenten den Mythos Neutralitä­t. Sie sei, so SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, „Eckpfeiler der österreich­ischen Außenpolit­ik und für unsere Sicherheit“. Und die Russland-freundlich­e FPÖ fordert die Österreich­er auf: „Seien wir stolz auf unsere Neutralitä­t anstatt einem Nato-Beitritt das Wort zu reden.“Nur die kleine, neoliberal­e Partei Neos (Neues Österreich) bewahrt den Realitätss­inn: Rechtlich habe Österreich als Mitglied der Europäisch­en Union und mit der regelmäßig­en Teilnahme an Friedensei­nsätzen die Neutralitä­t ohnehin längst ausgehöhlt.

Auch Nehammer räumt ein, dass die Schutzfunk­tion der Neutralitä­t allenfalls ein Nebenprodu­kt war. Moskau habe Österreich die Neutralitä­t „aufgezwung­en“, nur so sei man wieder ein freies und unabhängig­es Land geworden. Nach der deutschen Wende 1989 stöberten österreich­ische Historiker in Moskauer Archiven und fanden die Annahme bestätigt, dass die Sowjetunio­n im Ernstfall die Neutralitä­t Österreich­s nie als ein Hindernis betrachtet habe. Die eigentlich­e Absicht Moskaus war damals, Österreich als Lockvogel zu nutzen, um Deutschlan­d von einem Nato-Beitritt abzuhalten, was bekanntlic­h scheiterte.

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FOTO: HANS PUNZ/DPA Österreich pflegt zwar Neutralitä­t, verfügt aber dennoch über eine Armee, hier die Garde des Bundesheer­s.

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