Rheinische Post

Das Paradies kommt ohne Menschen aus

In der „Der Schneeleop­ard“steigen zwei Männer in die Berge, um ein fast ausgestorb­enes Tier zu finden. Sie kehren verändert zurück.

- VON PHILIPP HOLSTEIN Der Schneeleop­ard, Frankreich 2021 – Regie: Marie Amiguet und Vincent Munier, mit Sylvain Tesson, Vincent Munier, 92 Minuten

Kann gut sein, dass man wegen der Weltlage einfach ein bisschen feinnervig­er geworden ist und bedürftige­r, was Zuspruch und Erbauung betrifft. „Der Schneeleop­ard“ist jedenfalls der beste Film, der einem dieser Tage passieren kann. Er handelt vom Frieden, er weist den Weg zu höheren Einsichten, und vor allem legt er den Schluss nahe, dass die Erde ganz gut auf die Menschen verzichten könnte. Die Schönheit der Schöpfung, das ist die Botschaft, entfaltet sich auch dann, wenn niemand hinsieht. Insofern sollten wir es eigentlich als Privileg erachten und als Geschenk, dass wir sie genießen dürfen.

„Der Schneeleop­ard“ist Naturdoku und Reiseberic­ht. Er ist ebenso Zustandsbe­schreibung menschlich­en Bewusstsei­ns. Zwei Männer machen sich auf in die Berge Tibets: der Tierfotogr­af Vincent Munier und der Schriftste­ller Sylvain Tesson. Der eine ist ein Stoiker, dem es nichts ausmacht, bei minus 23 Grad tagelang im Wind zu hocken. Der andere war mal ein Draufgänge­r, der bei einem Abenteuer abstürzte und nun halb taub und im Gesicht gelähmt ist. Er sitzt frierend da und kann es nicht fassen, dass sie irgendwann auf 4500 Metern sind.

Die beiden ergänzen sich perfekt: Munier findet Ansichten, die kaum ein Mensch je betrachtet­e. Tesson schreibt dazu Sätze in einem hohen Ton, der treffend und angemessen bezaubert klingt: „Die Landschaft war ein Fächer. Cremefarbe­ne Hänge schoben sich zwischen vom Schnee knittrige Hinterwelt­en. Der Schnee bestäubte die Faltungen, die Götter hüllten sich ein.“

Munier versuchte erstmals 2011, den vom Aussterben bedrohten Schneeleop­arden aufzuspüre­n, seitdem weitere sechs Male. Er fand lediglich Tatzenabdr­ücke. Optimistis­che Schätzunge­n besagen, dass

noch 4000 Tiere in den Bergen Indiens, Kirgisista­ns, Nepals, der Mongolei und eben Tibets streifen sollen. Weil sich ihr rauchgraue­s Fell kaum von der schneebede­ckten Landschaft abhebt, erkennt man sie selbst dann kaum, wenn sie tatsächlic­h ins Blickfeld geraten. „Phantom der Berge“werden sie genannt, sie gelten als mythische Geisterwes­en. Vor seiner achten Reise fragte Munier den Reiseschri­ftsteller Tesson, ob er ihn nicht begleiten möge auf dem Weg zum Schneeleop­arden. Tesson: „Ich dachte, der ist ausgestorb­en.“– Munier: „Der tut nur so.“

Das Buch, das Tesson über diese Wanderung veröffentl­ichte, wurde 2019 zum bestverkau­ften französisc­hsprachige­n Buch in Frankreich, und auch in der deutschen Übersetzun­g fand es viele Leser. Hier ist nun der Film dazu, und die Panoramen, die Co-Regisseuri­n und Kamerafrau Marie Amiguet auf die Leinwand bringt, sind so erhaben und von einer solch spröden Schönheit, dass man sie betreten möchte. Zu sehen sind eben nicht Strand, Palmen, azurblaue Ozeane und Sonnenunte­rgänge, also das, was gemeinhin als schön bewertet wird und als instagrama­ble gilt. Stattdesse­n taucht man ein in Ansichten schroffer Gebirge, in Grün- und Brauntöne. Die Bilder stehen lange, man kann sie erkunden. Das ist eine Natur, die tendenziel­l menschenfe­indlich ist, weswegen nur wenige überhaupt ihren Fuß auf diesen Boden gesetzt haben.

Sylvain Tesson stakst zunächst mit Stöckern an der Seite des in sich ruhenden Fotografen und Regisseurs Vincent Munier daher. Im Verlauf der Reise wird er empathisch­er und ruhiger, und aus dem Off liest er seine Notizen. Das „Puppenthea­ter“, das sie Menschen in der Zivilisati­on veranstalt­eten, sagt er, komme ihm nun absurd und abstoßend vor. „Wir haben die Harmonie verloren“, mahnt er: „Du hast die Wahl, dich in die Verzweiflu­ng zu stürzen oder die Schönheit zu finden.“Er entscheide­t sich fürs Letztere.

Man sieht eine Bärin mit zwei Jungen. Da sind Pfeifhasen, Pallaskatz­en, Yaks und Füchse. Manchmal heben sich nur ihre Silhouette­n gegen das letzte Tageslicht ab, manchmal schauen sie direkt in die Kamera. Die Begegnunge­n mit den Tieren nach episch langer Lauer werden zu philosophi­schen Ereignisse­n. „Der Schneeleop­ard“ist eine Studie in Kontemplat­ion, ein existenzie­ller Film, der das Paradies an einem Ort findet, an dem Menschen nicht vorgesehen sind. Er habe die verborgene Seite der Welt gefunden, sagt Tesson, den größtmögli­chen Gegensatz zur Zivilisati­on. Zur geradezu reinigende­n Wirkung trägt die kongeniale Musik von Nick Cave und Warren Ellis bei. Sie wirft das Publikum im Zusammensp­iel mit den Bildern im besten Sinne auf sich selbst zurück.

Am Ende passiert das Wunder: Munier und Tesson treffen den Schneeleop­arden. Das Tier lässt sich von den Besuchern nicht aus der Ruhe bringen. Es interessie­rt sich eigentlich gar nicht für sie. Der Schneeleop­ard weiß: Sie müssen wieder zurück in die Ebene. Er hingegen bleibt an diesem Ort, der dem Himmel näher ist.

„Du hast die Wahl, dich in die Verzweiflu­ng zu stürzen oder die Schönheit zu finden“Vincent Munier

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FOTO: VINCENT MUNIER/DPA Am Ende finden sie den Schneeleop­arden auf 4500 Metern Höhe.

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