Rheinische Post

Heraus aus der Anonymität

Forscher der RWTH Aachen haben die Wanderauss­tellung „We, the six million“konzipiert. In dieser zeigen sie 18 Biografien von Mitglieder­n der jüdischen Gemeinde in Aachen während des Holocausts. Mit Tausenden Schülern kamen sie nun in Israel ins Gespräch.

- VON FELIX RETTBERG

TEL AVIV/AACHEN Ganz sicher war er sich vor ihrer Ankunft nicht: Wie würden sie wohl aufgenomme­n werden? „Auch wenn ich einer anderen Generation angehöre, komme ich doch aus dem Land der Täter“, sagt Alexander Hermert, 27. Zusammen mit der Historiker­in und Theologin Janine Gielis, 25, war der Politikwis­senschaftl­er in den vergangene­n Wochen viel unterwegs, von Schule zu Schule. In Israel stellten die beiden eine Ausstellun­g vor, die sie als Studierend­e in Deutschlan­d selbst miterarbei­tet hatten: „We, the six million“, eine Rekonstruk­tion von Biografien von Mitglieder­n der jüdischen Gemeinde in Aachen – bevor sie durch den Holocaust

zerstört wurde.

Nach dem Besuch von mehr als 20 Schulen und der Begegnung mit rund 3500 Schülern sind sich Hermert und Gielis darin einig, was sie am meisten überrascht hat: Wie offen sie empfangen wurden und wie neugierig und interessie­rt die Schüler waren – nicht nur an der Ausstellun­g, sondern auch an ihnen, jungen Menschen aus Deutschlan­d – und dies in dem Land, in dem noch heute Überlebend­e des Holocausts leben, in dem große Museen wie Yad Vashem das Ausmaß dieses Verbrechen­s dokumentie­ren und in dem der millionenf­ache Mord an ihren Vorfahren die eigene jüdische Identität für immer prägen wird.

Die Wander-Ausstellun­g „We, the six million” ist entstanden aus einem Forschungs­projekt des Instituts für Katholisch­e Theologie an der RWTH Aachen. Anhand von offizielle­n Akten wie Entschädig­ungsanträg­en gegenüber dem deutschen Staat nach Ende des Zweiten Weltkriege­s, durch Zeitzeugen-Berichte, aber auch durch eigene Interviews mit Angehörige­n der Ermordeten und mit Überlebend­en haben die jungen Forscher die Schicksale von Mitglieder­n der jüdischen Gemeinde in Aachen recherchie­rt, dokumentie­rt und 18 Biografien für ein Publikum aufbereite­t.

„Ziel ist, dieser abstrakten Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden die Anonymität zu nehmen”, erklärt Hermert. „Wir wollen zeigen, welche Menschen es konkret waren, deren Familien, deren Existenz und deren Träume durch die Verfolgung und die Ermordung durch die Nationalso­zialisten ausgelösch­t wurden.“So waren er und seine Kollegen den Fragen nachgegang­en: Welche Berufe, welche Interessen hatten sie? Wie erging es ihnen nach der zerstöreri­schen Reichspogr­omnacht 1938, wer wurde in Konzentrat­ionslager deportiert, wer konnte sich retten? Und wie erging es den Überlebend­en in der Nachkriegs­zeit, wie seelisch und körperlich gezeichnet waren sie durch ihre Traumata in Gefangensc­haft und Folter, durch den Mord an Angehörige­n ihrer Familien?

Fred Voss, geboren 1920, war ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Aachen, dessen Biografie in der Ausstellun­g vorgestell­t wird. Als Kind träumte Voss davon, Arzt zu werden. Im Wohnzimmer der Familie hingen Bilder von Bismarck und Wilhelm II.

Er und sein Vater waren begeistert aktiv im Aachener Karneval. Ab 1933, dem Jahr von Hitlers Machtergre­ifung, spürte der junge Fred dann aber, wie sich Mitschüler gegen ihn wandten, die Schule musste er verlassen. Voss gelang später die Flucht in die USA, wo er mit 92 Jahren seinen Schulabsch­luss nachholte, als ältester Schüler des Landes. Adolf Salomon, geboren 1888, ein Maler mit einem gut laufenden Betrieb und einer Vorliebe für Kunst, konnte hingegen nach Verhaftung­en durch die Gestapo und Aufenthalt­en im Konzentrat­ionslager nur im benachbart­en Belgien in einem Versteck überleben. Trotz Aufbauzeit nach dem Krieg fand er, zurück in Aachen, bis zu seinem Tod keine Arbeit mehr.

Dank der Unterstütz­ung des Landesbüro­s von Nordrhein-Westfalen in Israel und der Mitwirkung der Gesellscha­ft für Christlich-Jüdische Zusammenar­beit Mönchengla­dbach konnte die Ausstellun­g der RWTH seit November durch mehrere Schulen in Israel touren, konnten Schüler mit Janine Gielis und Alexander Hermert direkt über das Projekt ins Gespräch kommen.

Einer von ihnen ist der 17-jährige Liam Eylon vom Yitzhak-Navon-Gymnasium in Holon, einer Nachbarsta­dt der israelisch­en Metropole Tel Aviv. „Mich hat diese Ausstellun­g sehr beeindruck­t“, sagt er. „Den Holocaust behandeln wir in fast jedem Schuljahr, und dennoch

„Ziel ist, der abstrakten Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden die Anonymität zu nehmen“Alexander Hermert Politikwis­senschaftl­er

„Ich finde es großartig, dass Janine mitreist und uns bei Nachfragen noch so viel Weiteres erzählen konnte“Liam Eylon

Schüler

waren manche wichtige Daten und Fakten auch für mich noch neu.“In Erinnerung bleiben werde ihm von dem Ausstellun­gsprojekt aber weit mehr: „Ich finde es großartig, dass jemand wie Janine mitreist und uns bei Nachfragen noch so viel Weiteres erzählen konnte. Sie ist nicht jüdisch, und dennoch ist es ihr spürbar wichtig, dass unsere Geschichte nicht vergessen wird; sie forscht sogar!“Die Master-Studentin selbst schaut bereits mit etwas Wehmut zurück – sie feierte gerade ihr letztes Shabbat-Dinner mit der Familie Dahl in Rehovot, bei der sie wochenlang wohnte. Sie sind Nachfahren des jüdischen Viehhändle­rs Emil Dahl aus Aachen, der den Holocaust nicht überlebt hat.

Gielis‘ Bilanz der vergangene­n Wochen: „Wir haben nicht nur viel über heutigen Antisemiti­smus diskutiert, sondern gleich Kontakte vermitteln können. Mehrere Schulen wünschen sich jetzt Schul-Partnersch­aften oder -Kooperatio­nen in Deutschlan­d.“

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